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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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hinausstießen, sodass es von der Strömung fortgetragen werden konnte …
    Dies alles – diese Folge von Visionen und Bildern – war ihr, so versicherte Diti später, innerhalb weniger Sekunden zuteil geworden. Und eines war klar: Wenn sie die Wahrheit sagte, dann konnten die Visionen nicht länger gedauert haben – denn das Auge des Sturms hatte nicht nur den Flüchtenden, sondern auch den Wachen und Maistrys eine kurze Pause gewährt. Als der Wind nachließ, hämmerten sie gegen die zugenagelte Luke ihres Verschlags; sie würden nur ein paar Minuten brauchen, um durchzubrechen, und dann würden sie herausstürzen …
    »Zikri-Malum hat uns gerettet«, fügte Diti an diesem Punkt stets hinzu. »Ohne ihn wäre es eine gran kalamité geworden – unvorstellbar, was die Silahdars und Aufseher uns dreien angetan hätten, wenn sie uns auf Deck angetroffen hätten. Aber der Malum hat uns Beine gemacht und uns ins Zwischendeck zurückgestoßen, zu den anderen Kontraktarbeitern. Dank ihm waren wir verschwunden, als die Wachen und Aufseher auf Deck gerannt kamen … «
    Was danach geschah, konnten sie – Diti, Paulette und die anderen im Zwischendeck – nur vermuten: In der kurzen Zeit, bis das Auge des Sturms vorübergezogen war und der Wind wieder zurückkehrte, war es, als hätte ein weiterer Orkan die Ibis erfasst, denn man hörte Dutzende von Füßen hierhin und dorthin über das Deck poltern. Ganz plötzlich kam dann der Taifun wieder über sie, und man hörte nichts mehr außer dem beängstigenden Heulen des Sturms und dem Prasseln des Regens.
    Erst viel später erfuhren die Kontraktarbeiter, dass man Malum Zikri die Schuld an allem gegeben hatte, was vorgefallen war – an der Flucht der Sträflinge, der Desertion des Serangs und des Laskars, der Befreiung von Kalua und sogar dem Mord am ersten Steuermann. All dies wurde ihm zur Last gelegt.
    Die Kontraktarbeiter im Zwischendeck unten wussten nichts von all dem, was sich über ihnen abspielte, und als sie endlich wieder herausgelassen wurden, sagte man ihnen nur, die fünf Flüchtlinge seien tot. Das Beiboot sei kieloben und mit einem Loch im Boden aufgefunden worden, erzählten ihnen die Maistrys, es bestehe also kein Zweifel, dass sie das Schicksal ereilt hatte, das sie verdienten. Und Malum Zikri sei hinter Schloss und Riegel, denn der Kapitän sei gezwungen worden, den aufgebrachten Aufsehern zu versprechen, dass er ihn bei der Ankunft in Port Louis den Behörden übergeben werde.
    »Dyé-koné, ihr könnt euch vorstellen, wie diese Neuigkeit auf uns wirkte und was für einen gran kankann sie auslöste, denn die Laskaren beklagten den Tod von Serang Ali, die Kontraktarbeiter trauerten um Kalua, und Paulette weinte um Jodu, der wie ein Bruder für sie war, und auch um Zikri Malum, weil sie ihr Herz an ihn gehängt hatte. Ich war die Einzige, das könnt ihr mir glauben, deren Auge trocken blieb, weil ich es besser wusste. ›Hör zu‹, flüsterte ich eurer Tantinn Paulette zu, ›keine Sorge, sie sind wohlauf, die fünf; sie haben das Boot selbst ins Meer zurückgestoßen, damit man sie für tot hält und sie schnell vergisst. Und auch um Malum Zikri brauchst du dir keine Sorgen zu machen, weißt du, er hat sicher Vorkehrungen für dich getroffen – vertrau ihm einfach.‹ Und tatsächlich, einen oder zwei Tage später hat Mamdu-Tindal, einer der Laskaren, eurer Tantinn Paulette ein Bündel mit Kleidern des Malum gegeben und ihr ins Ohr geflüstert: ›Wenn wir im Hafen sind, zieh das an, und wir bringen dich irgendwie an Land.‹ Ich war als Einzige nicht überrascht, denn es war, als ereignete sich alles so, wie ich es gesehen hatte, als der Sturm mich in die Höhe getragen und mir gezeigt hatte, was unten geschah … «
    Es fehlte nie an Skeptikern, die Ditis Bericht von jener Nacht anzweifelten. Die meisten ihrer Zuhörer waren auf der Insel aufgewachsen und konnten sich einer gewissen Vertrautheit mit Zyklonen rühmen, aber kein Einziger von ihnen hatte sich jemals vorgestellt – oder konnte glauben – , dass es möglich sei, die Welt durch das Auge eines Sturms zu betrachten. War es möglich, dass sie sich das alles in der Rückschau nur eingebildet hatte? Hatte sie vielleicht einen Anfall erlitten oder war einer Halluzination aufgesessen? Dass sie tatsächlich gesehen hatte, was sie beschrieb, erschien selbst denjenigen unter ihnen, die sie am meisten respektierten, zweifelhaft.
    Doch Diti blieb felsenfest dabei: Glaubten sie etwa nicht an Sterne,
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