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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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alle Pilgerfahrten liefen auch die Besuche der Famie in Ditis Schrein nach einem vorgeschriebenen Ritual ab: Tradition und Gebräuche diktierten sowohl die Richtung des Rundgangs als auch die Reihenfolge, in der die Bilder betrachtet und verehrt werden mussten. Auf das Bild des Gründervaters folgte eines, das die Famie unter dem Titel »Die Trennung« (Biraha) kannte: Es stand nichts darunter, aber jeder Colver wusste, dass es so hieß, und selbst den kleinsten chutkas und chutkis war bekannt, dass es einen Wendepunkt in der Geschichte ihrer Familie zeigte – den Augenblick, in dem Diti von ihrem Mann getrennt wurde.
    Das geschah, wie alle wussten, als Diti und Kalua auf der Ibis mit Dutzenden anderer Kontraktarbeiter von Indien nach Mauritius unterwegs waren. Die Reise hatte von Anfang an unter einem schlechten Stern gestanden, und das Unglück erreichte seinen Höhepunkt, als Kalua wegen eines bloßen Aktes der Selbstverteidigung zum Tode verurteilt wurde. Doch bevor die Strafe vollstreckt werden konnte, kam ein Sturm auf, der Schoner geriet in Seenot, und Kalua konnte zusammen mit vier anderen Flüchtlingen in einem Rettungsboot fliehen.
    Die Geschichte von der glücklichen Flucht des Patriarchen von Bord der Ibis wurde bei den Colvers oft erzählt: Sie war für sie das, was die Geschichte der wachsamen Gänse für das alte Rom gewesen war – ein Augenblick, in dem das Schicksal sich mit der Natur verbündete, um sie darauf hinzuweisen, dass ihr Los kein gewöhnliches war. Ditis Zeichnung hielt den Augenblick fest, bevor die tobenden Wogen das Boot der Flüchtlinge vom Mutterschiff wegrissen: Die Ibis war wie ein mythologischer Vogel dargestellt, mit einem großen schnabelförmigen Bugspriet und zwei riesigen ausgebreiteten Segeltuchschwingen. Das Beiboot mit den Flüchtlingen war rechts, nur etwa einen Fuß entfernt, durch zwei stilisierte hohe Wogen von der Ibis getrennt. Als Kontrast zur Vogelform des Schoners erinnerte die Gestalt des Bootes an einen halb untergetauchten Fisch; seine Größe dagegen war – vielleicht um seine gewichtige Rolle zu betonen – stark übertrieben, hatte es doch fast dieselben Maße wie das Mutterschiff. Auf jedem der beiden Wasserfahrzeuge befand sich nur ein kleines Grüppchen Menschen, vier an Bord des Schoners, fünf in dem Boot.
    Wiederholung ist die Methode, die das Wundersame alltäglich macht: Obwohl die Geschichte in ihren Grundzügen allen wohlbekannt war, stellten sie Diti immer wieder dieselben Fragen, wenn sie die Prozession zu dem Schrein anführte.
    »Kisa?«, riefen die chutkas und chutkis und zeigten auf diese oder jene Figur: »Kisisa?«
    Doch auch dafür hatte Diti ein festes Ritual, und egal, wie viel Spektakel die Kinder machten, sie begann immer auf dieselbe Weise: Sie hob den Stock und zeigte auf die kleinste der fünf Gestalten in dem Rettungsboot.
    »Vwala! Seht ihr den da mit den drei Augenbrauen? Das ist Jodu, der Laskar – er ist mit eurer Tantinn Paulette aufgewachsen und wie ein Bruder für sie. Und der da drüben, mit dem Turban auf dem Kopf, das ist Serang Ali – ein Meister-Seemann, wenn es so etwas gibt, und so gerissen wie ein gran-koko. Und die beiden da, das sind Verurteilte, die auf Mauritius ihre Strafe verbüßen sollten – der links war der Sohn von einem Seth, einem großen Geschäftsmann aus Bombay, aber seine Mutter war Chinesin, deshalb wurde er Chini genannt, obwohl er Ah Fatt hieß. Und der andere, das ist kein anderer als euer Nil-mawsa, der Onkel, der so gern Geschichten erzählt.«
    Dann erst bewegte sich die Spitze ihres Stockes zur turmhohen Gestalt von Maddow Colver, der aufrecht mitten im Boot stand. Als Einziger der fünf Flüchtlinge war er mit abgewandtem Gesicht dargestellt, als wollte er seiner Frau und seinem ungeborenen Kind auf der Ibis Adieu sagen, also ihr selbst, die mit einem unförmigen Bauch dargestellt war.
    »Da, vwala! Das da bin ich auf dem Deck der Ibis mit eurer Tantinn Paulette auf der einen und Babu Nob Kissin auf der anderen Seite. Und da hinten ist Malum Zikri – Zachary Reid, der zweite Steuermann.«
    Die Platzierung von Ditis Abbild war einer der kuriosesten Aspekte der Komposition: Im Gegensatz zu den anderen, die alle mit beiden Beinen auf den Planken ihres Schiffs standen, schwebte Diti ein ganzes Stück über dem Deck. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, sodass es schien, als schaute sie über Zacharys Schulter in den stürmischen Himmel hinauf. Mehr als jedes andere Detail des Bildes
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