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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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bewirkte Ditis Kopfhaltung, dass das Bild seltsam statisch wirkte, als ob sich die Szene ganz langsam und planmäßig aufgebaut hätte.
    Doch jede Andeutung in diese Richtung quittierte Diti augenblicklich mit einem schroffen Tadel: »Bon-dyé«, rief sie dann aus, »bist du ein fol dogla oder was? Mach dich nicht lächerlich: Die ganze Sache hat von Anfang bis Ende nur ein paar minits gedauert, und die ganze Zeit war es eine einzige jaldi-jaldi, ein hoffnungsloses golmal, tus in dezord. Glaub mir, es war ein mirak, dass die fünf entkommen sind – und das alles wäre nicht möglich gewesen ohne diesen Serang Ali. Er war es, der die Flucht geplant hat, er und kein anderer; wir hatten alles ihm zu verdanken. Die Laskaren waren natürlich alle eingeweiht, aber es war so sorgfältig vorbereitet, dass der Kapitän es ihnen nicht anlasten konnte. Es war ein wunderbarer Plan, wie ihn nur ein burrburrya wie der Serang ausklügeln konnte: Sie haben gewartet, bis der Sturm die Wachen in ihre Quartiere unter Deck getrieben hatte. Dann haben sie sie eingesperrt, indem sie die Luken dicht machten. Der Serang setzte den Zeitpunkt des Ausbruchs während einer Wachablösung fest, als alle Offiziere unter Deck waren. Ah Fatt, der Chini, der am schnellsten auf den Beinen war, hatte die Aufgabe, die Luke der Offizierskajüte zu verschließen, stattdessen schickte er aber den ersten Steuermann mit einem sandokann zwischen den Rippen zur Hölle; als das herauskam, war das Boot schon auf und davon. Mich hat Jodu rausgelassen, und als ich an Deck kam, hab ich vreman gedacht, ich hätte mein Augenlicht verloren. Es war so dunkel, dass nichts vizib war, außer wenn es blitzte – und toulétan der Regen, der wie Hagel runterprasselte, und der Donner, krawumm, krawumm, krawumm, als sollten wir alle taub werden. Ich hatte nur die Aufgabe, euren Großvater von dem Mast abzuschneiden, an den sie ihn gefesselt hatten, aber bei dem Regen und dem Wind, ihr könnt euch nicht vorstellen, wie difisil das war … «
    Dieser Beschreibung zufolge hätte man meinen können, dass die Szene nach nur wenigen Minuten hektischer Aktivität zu Ende gewesen war, und doch behauptete Diti jedes Mal fast im selben Atemzug, es sei ihr vorgekommen, als hätte die Trennung ein oder zwei Stunden gedauert. Und das war nicht das einzige Paradox dieser Nacht. Paulette bestätigte später, dass sie an Ditis Seite war, von dem Moment, als Kalua ins Boot hinabgelassen wurde, bis zu der Sekunde, als Zachary sie wieder unter Deck brachte; während dieser ganzen Zeit, schwor sie, hätten Ditis Füße das Deck der Ibis nicht verlassen, auch nicht für einen einzigen Augenblick. Doch ihre Worte konnten nichts ausrichten gegen Ditis Bestimmtheit, wenn sie schilderte, was in diesen wenigen Minuten geschah: Nie wich sie auch nur einen Fingerbreit von ihrer Behauptung ab, sie habe sich deshalb auf diese Weise porträtiert, weil sie von einer Kraft, keiner anderen als der des Sturms selbst, hochgewirbelt und in den Himmel emporgetragen worden sei.
    Niemand, der Diti davon erzählen hörte, konnte bezweifeln, dass sie selbst wirklich überzeugt war, der Wind habe sie hochgehoben, sodass sie hinabschauen und alles sehen konnte, was sich unten ereignete – nicht in Angst oder Panik, sondern in aller Seelenruhe. Es war, als hätte der tufaan sie zu seiner Vertrauten erwählt, den Gang der Zeit angehalten und ihr sein eigenes Auge geliehen; einen Moment lang konnte sie alles sehen, was sich in diesem stürmischen Wirbel befand: Sie sah die Ibis , direkt unter sich, und die vier Gestalten, die sich im Schutz der Kajütstreppe auf dem Achterdeck zusammendrängten, eine von ihnen sie selbst; etwas weiter östlich nahm sie eine Inselgruppe wahr, die von vielen tiefen Kanälen durchzogen war; sie sah Fischerboote, die in den großen und kleinen Buchten der Inseln Zuflucht gesucht hatten, und andere, seltsam fremde Wasserfahrzeuge, die durch die Kanäle glitten. Auf die gleiche Weise, wie eine Mutter oder ein Vater den Blick des Kindes auf etwas Interessantes lenkt, drehte der Sturm dann sanft ihren Kopf, um ihr ein Boot zu zeigen, das in seinen Wogen gefangen war: das fliehende Beiboot der Ibis . Sie sah, dass die Flüchtlinge sich die Stille im Auge des Sturms zunutze gemacht hatten, um in fliegender Hast über das Wasser zur nächstgelegenen Insel zu gelangen; sie sah sie aus dem Boot springen, und dann sah sie zu ihrer größten Verwunderung, dass sie das Boot umdrehten und es
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