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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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Wenn ich jetzt daran zurückdenke, bekomme ich Angst, aber als es passierte, war dafür keine Zeit. Der Sturm blies so heftig, dass wir uns mit aller Kraft im Boot festhalten mussten; es schien, als würde es jeden Moment mit uns allen fortgeweht werden. Aber wunderbarerweise geschah das nicht: Als wir am wenigsten damit rechneten, war plötzlich das Auge des Sturms über uns, und das Toben ließ nach. In dieser kurzen Zeitspanne ruderten wir an Land. Kaum hatten wir Sand unter den Füßen, wollten wir das Boot hochheben und in Sicherheit bringen. Doch Serang Ali hinderte uns daran: Nein, sagte er, es sei besser, ein paar Planken aus dem Boden zu schlagen, das Boot umzudrehen und es ins tiefe Wasser hinauszustoßen! Wir trauten unseren Ohren nicht, es hörte sich an wie schierer Wahnsinn – wie sollten wir ohne Boot jemals wieder von der Insel wegkommen? Aber der Serang ließ sich nicht beirren: Boote gebe es genug auf der Insel, sagte er, und es sei zu riskant, das Beiboot mit seiner verräterischen Bemalung zu behalten. Wenn man es fand, würde sich herumsprechen, dass wir am Leben waren, und man würde uns verfolgen bis ans Ende unserer Tage. Viel besser sei es, wenn alle Welt uns für tot hielt – man würde uns abschreiben, und wir könnten ein neues Leben anfangen. Und er hatte natürlich recht – es war das Beste, was wir tun konnten.«
    »Und dann? Was war dann?«
    »Die erste Nacht verbrachten wir unter einem überhängenden Felsen, wo wir halbwegs vor dem Sturm geschützt waren. Ihr könnt euch vorstellen, in was für einem seltsamen Zustand wir waren – völlig zerschunden, aber am Leben und, besser noch, in Freiheit. Aber was sollten wir mit dieser Freiheit anfangen? Außer Serang Ali wusste keiner von uns, wo wir uns befanden. Wir dachten, wir seien an einem gottverlassenen Ort angeschwemmt worden, wo wir mit Sicherheit verhungern würden. Das war unsere größte Befürchtung, aber sie sollte schon bald zerstreut werden. Bei Tagesanbruch war der Sturm vorbei. Die Sonne ging an einem klaren Himmel auf, und als wir aus unserem Unterstand traten, lagen ringsum Tausende von Kokosnüssen – sie waren vom Sturm abgerissen worden und auf die Erde und ins Wasser gefallen.
    Nachdem wir uns satt gegessen und getrunken hatten, gingen Ah Fatt und ich los, um zu erkunden, wo wir uns befanden: Die Insel, oder jedenfalls das, was wir davon sahen, glich einem einzigen riesigen Berg; sie erhob sich jäh aus dem Meer, und wo Land und Wasser sich berührten, waren die Hänge von dunklen Felsen und goldenem Sand gesäumt. Alles Übrige war Wald – normalerweise ein dichter Dschungel, jetzt aber, nachdem der Sturm Bäume und Sträucher entlaubt hatte, eine endlose Folge nackter Stämme und kahler Äste. Scheinbar war es genau das, was wir befürchtet hatten: ein trostloser, gottverlassener Ort!
    Serang Ali hatte sich unterdessen überhaupt noch nicht gerührt; er hatte es sich im Schatten gemütlich gemacht und schlief tief und fest. Wir hüteten uns, ihn zu wecken, und setzten uns hin, warteten und machten uns Sorgen. Ihr könnt euch vorstellen, wie gespannt wir ihn umringten, als er endlich aufwachte: ›Was machen wir jetzt, Serang Ali?‹
    Nun endlich verriet uns Serang Ali, dass ihm die Insel nicht unbekannt war; in seiner Jugend, als er auf einer hainanesischen Dschunke arbeitete, sei er oft hierhergekommen. Die Insel heiße Groß Nikobar und sei keineswegs eine verlassene Wildnis; auf der anderen Seite des Berges lägen unten an der Küste einige erstaunlich reiche Dörfer.
    ›Wie das?‹, fragten wir.
    Er zeigte zum Himmel, an dem Scharen schnell fliegender Vögel kreisten und segelten. ›Die Vögel da‹, sagte er, ›die Insulaner nennen sie hinlene; sie verehren sie, weil sie die Quelle ihres Wohlstands sind. Diese Geschöpfe wirken unscheinbar, aber sie machen etwas unendlich Wertvolles.‹
    ›Was denn?‹
    ›Nester. Es gibt Leute, die sehr viel Geld für die Nester dieser Vögel zahlen.‹
    Ihr könnt euch vorstellen, wie das auf uns drei Hindustaner wirkte! Euer Großvater, Jodu und ich dachten, der Serang wolle uns zum Narren halten.
    ›Wo in der Welt würden Menschen für viel Geld Vogelnester kaufen?‹, fragten wir.
    ›In China‹, sagte er. ›In China kocht und isst man sie.‹
    ›Wie daal?‹
    ›Ja. Nur dass es in China das teuerste Essen überhaupt ist.‹
    Das konnten wir nicht glauben, deshalb wandten wir uns an Ah Fatt: Ob das denn wahr sei.
    Ja, sagte er, wenn das die Nester seien, die
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