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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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in Kanton ›yan wo‹ genannt würden, dann seien sie in der Tat sehr wertvoll, eine Währung, wie es in den östlichen Gewässern keine bessere gebe; je nach Qualität würden sie entweder in Silber oder in Gold aufgewogen. Eine einzige Kiste dieser Nester könne in Kanton den Gegenwert von acht Pfund Troygewicht Gold einbringen.
    Unser erster Gedanke war, dass wir reich waren und dass wir nur die Nester zu finden und aufzusammeln brauchten. Aber Serang Ali belehrte uns auf der Stelle eines Besseren. Die Vögel nisteten in riesigen Höhlen, sagte er, und jede Höhle gehöre einem Dorf. Wenn wir einfach hineingingen und uns bedienten, würden wir die Insel nicht lebend wieder verlassen. Bevor wir irgendetwas unternähmen, müssten wir einen Dorfvorsteher – omja karruh hießen die hier – um Erlaubnis fragen, eine angemessene Aufteilung der Erträge vereinbaren und so weiter.
    Glücklicherweise war der Serang mit einem solchen Vorsteher bekannt, also machten wir uns sofort auf die Suche nach seinem Dorf. Nach einem Halbtagesmarsch stießen wir auf den omja karruh, der gerade einen Berg hinaufstieg; obwohl er einen großen Trupp Arbeiter dabeihatte, war er froh, uns zu sehen, weil er dringend noch mehr Hilfskräfte brauchte.
    Nach einem etwa einstündigen, anstrengenden Anstieg erreichten wir den Eingang der Höhle, und dort standen wir eine Weile benommen da und wurden Zeugen eines unglaublichen Spektakels. Der Boden der Höhle leuchtete wie Elfenbein, so dicht war er mit Vogelkot bedeckt. Das Licht der Sonne, das von dieser Oberfläche reflektiert wurde, strahlte in einen Raum ab, der größer und höher war, als einer von uns je einen gesehen hatte. Die Wände ragten mehrere Hundert Meter lotrecht auf und waren mit unzähligen weißen Nestern überzogen; es war, als sei jede freie Fläche mit Perlmutteinlagen verziert worden.
    Die allermeisten Nester hingen hoch oben, aber ein paar waren nicht weit vom Boden entfernt. Das erste Nest, das ich mir ansah, war in Schulterhöhe, und ein Vogel saß darin: Er rührte sich nicht, als ich mich näherte, und ließ sich sogar aus dem Nest nehmen – er war kleiner als meine Handfläche, und ich spürte, wie sein Herz klopfte. Es war nur ein unscheinbares kleines Geschöpf, schwarzbraun, an der Unterseite weiß und nicht länger als zwölf Zentimeter, mit einem gegabelten Schwanz und leicht gebogenen Flügeln. Wie ich später erfuhr, war es eine Salangane. Als ich die Hand öffnete, versuchte sie, mit den Flügeln zu schlagen, schaffte es aber nicht, abzuheben; erst als ich sie hochwarf, schoss sie davon.
    Der Sturm hatte die Kolonie schwer beschädigt, und zahlreiche Nester lagen auf dem Boden. Wenn man sie von Federn, Zweigen und Staub befreite, sah man, dass sie von einem fast irisierenden Weiß waren; es war auf Anhieb zu erkennen, dass sie aus einem ganz anderen Material bestanden als dem, aus dem Vögel normalerweise ihre Nester bauen – sie wirkten wie Erzeugnisse hoher Handwerkskunst, denn sie waren aus feinen, kreisförmig angeordneten Fäden konstruiert. So klein und leicht waren sie, dass siebzig Stück davon kaum so viel wogen wie ein kantonesischer gan oder ein chinesischer catty – was etwa einundzwanzig englischen Unzen oder sechshundert Gramm entspricht.
    Wir sammelten Tausende davon auf und halfen dann, sie ins Dorf hinunterzutragen. Als Gegenleistung für unsere Arbeit durften wir eine bestimmte Menge behalten – nicht genug, um davon reich zu werden, aber doch so viel, um davon unsere Weiterreise bestreiten zu können.
    Nachdem wir nun über Mittel und Wege verfügten, die Insel zu verlassen, stellten wir fest, dass uns mehr Möglichkeiten offenstanden, als wir gedacht hatten. Nordwärts lagen die Küste von Tenasserim in Burma und der betriebsame Hafen von Mergui, im Süden des Sultanats Aceh, eines der wohlhabendsten Reiche in der Region, und Richtung Osten, ein paar Tagereisen entfernt, Singapur und Malakka.
    Wären wir alle zusammen gereist, hätten wir unnötig Aufsehen erregt; es war uns also bewusst, dass wir uns aufteilen mussten. Serang Ali wollte nach Mergui, und Jodu entschied sich, mit ihm zu gehen. Ah Fatt hatte dagegen beschlossen, sich nach Osten aufzumachen, nach Singapur und dann nach Malakka, wo er Verwandte hatte – seine Schwester war einige Jahre zuvor mit ihrem Mann dorthin gezogen.
    Eurem Großvater, Maddow Colver, und mir selbst fiel die Entscheidung am schwersten. Sein erster Gedanke war, sich nach Mauritius durchzuschlagen,
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