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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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die Füße fatigé seien, war zwecklos, damit erntete man höchstens ein erbostes: »Bus to fana! Auf die Füße!«
    Es war nicht schwer, die Schar der Pilger zum Weitergehen zu bewegen, denn inzwischen konnten sie das Mahl nach der puja kaum noch erwarten, am wenigsten die Kinder. Erneut übernahm Ditis pus-pus die Führung, an den Stangen die kräftigsten Männer: Auf knirschenden Kieselsteinen stapften sie einen steilen Weg bergan und umrundeten einen Felsvorsprung. Und dann, ganz plötzlich, kam die andere Flanke des Berges in Sicht, die lotrecht ins Meer abfiel. Jäh drang das Donnern der Brandung über die Kante des Felsens an ihre Ohren, und der Wind fuhr ihnen ins Gesicht. Dies war die gefährlichste Etappe des Aufstiegs, denn hier waren die Böen und Aufwinde am stärksten. Niemand durfte hier verweilen, niemand innehalten beim Anblick des sie umgebenden Horizonts, der wie ein Reif zwischen Meer und Himmel kreiselte. Trödler bekamen den Dorn von Ditis Stock zu spüren: »Garatwa – weitergehen … «
    Noch ein paar Schritte, und sie erreichten die geschützte Felsplatte, die die Schwelle zu Ditis Schrein bildete. Diese eigentümliche natürliche Formation, von der Familie chowkey genannt, hätte auch von einem Architekten nicht sinnreicher erdacht werden können: Das Plateau war breit und beinahe eben und lag im Schutz eines Felsüberhangs, der eine Art Decke oder Dach bildete. Man kam sich vor wie auf einer schattigen Veranda, und wie um dieses Bild zu vervollständigen, gab es sogar eine Art Balustrade – aus den knorrigen Büschen und Bäumen, die sich an den Rand der Felsplatte klammerten. Doch um über die Kante zu schauen, hinab auf die am Fuß der Felswand schäumende Brandung, brauchte man einen stabilen Magen und starke Nerven: Die Brecher dort unten waren bis von der Antarktis herangerollt, und selbst an einem ruhigen, klaren Tag schien das Wasser gegen den Berg anzurennen, als wollte es diesen Flecken Land wegspülen, der sich seinem Strom nach Norden dreist in den Weg stellte.
    Doch so wunderbar war diese Laune der Natur, dass die Besucher sich nur niederzusetzen brauchten, um die Wellen aus ihrem Blickfeld zu verbannen – denn dieselben knorrigen Pflanzen, die den Rand der Felsplatte schützten, verbargen auch den Ozean vor denen, die dort saßen. Die Felsveranda war also der perfekte Ort für eine Zusammenkunft, und aus dem Ausland angereiste Verwandte ließen sich oft zu der irrtümlichen Annahme verleiten, damit habe auch der Name chowkey zu tun – denn ein chowk, also ein Basar, war schließlich auch ein Platz, auf dem Menschen zusammenkamen. Und hatte die Höhle mit ihren Begrenzungen ringsum nicht auch etwas von einem chowkey, also einem Gefängnis? Aber auf derlei Gedanken konnte nur ein Hindi sprechender etranzer kommen: Die Insulaner wussten alle, dass im Kreol das Wort »chowkey« auch die runde Scheibe bezeichnet, auf der rotis ausgerollt werden (das Ding, das in der Heimat als »chakki« bekannt ist). Und da war er, Ditis chowkey, genau in der Mitte der Felsplatte, geschaffen nicht von Menschenhand, sondern von Wind und Erde: nichts anderes als ein riesiger, von den Elementen zu einem oben abgeflachten Pilz geschliffener Felsblock. Wenige Augenblicke nach der Ankunft der Pilger arbeiteten die Frauen dort bereits emsig, rollten daalpuris und parathas hauchdünn aus und stopften sie mit den köstlichen Füllungen, die sie am Abend zuvor zubereitet hatten: fein geriebene Mischungen aus den schmackhaftesten Gemüsesorten der Insel – violettem arwi und grünen Moringafrüchten, cambaré-beti und welkem songe.
    Von diesem Abschnitt von Ditis Leben gibt es mehrere Fotos, darunter auch zwei wunderschöne Daguerreotypien. Auf einer davon, die am chowkey aufgenommen wurde, sieht man Diti im Vordergrund: Sie sitzt noch in ihrem pus-pus, der auf dem Boden steht. Sie trägt einen Sari, doch anders als die anderen Frauen auf dem Bild hat sie ihren ghungta vom Kopf gleiten lassen und ihr Haar freigelegt, das bestürzend weiß ist. Der Saum des Saris hängt über ihrer Schulter, beschwert von einem großen Schlüsselbund, dem Symbol ihrer fortbestehenden Autorität in Familienangelegenheiten. Ihr Gesicht ist dunkel und rund und von tiefen Furchen durchzogen: Die Daguerreotypie ist so detailgenau, dass der Betrachter förmlich meint, die Struktur ihrer Haut spüren zu können, ähnlich der von verknittertem, zähem, wettergegerbtem Leder. Sie hat die Hände friedlich im Schoß gefaltet, aber
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