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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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Morne als die anderen, doch im Gegensatz zu ihnen musste sie ein einjähriges Kind ernähren, und wenn es keinen Reis gab, wollte es nichts anderes essen als zerdrückte Bananen. Da diese in den Wäldern des Morne im Überfluss wuchsen, nahm Diti gelegentlich all ihren Mut zusammen und wagte es, mit ihrem Sohn in einem Tuch auf dem Rücken, die Landbrücke zu überqueren. So kam es, dass sie eines Tages von einem schnell aufziehenden Unwetter auf dem Berg festgehalten wurde. Als sie den Wetterwechsel bemerkte, hatte die steigende Flut bereits die Landbrücke überschwemmt, und da es keinen anderen Rückweg zur Plantage gab, folgte Diti einem alten Weg, in der Hoffnung, er werde sie an einen geschützten Ort führen. Auf diesem von den marrons angelegten verwachsenen Pfad stieg sie bergauf, unrundete den Gipfel und gelangte zu der Felsplatte, die später der chowkey der Famie werden sollte.
    Im ersten Moment dachte sie, die äußere Plattform biete ihr schon das Höchstmaß an Schutz, auf das sie hoffen konnte: Hier hätte sie gewartet, bis das Unwetter vorüber war, ohne zu ahnen, dass es sich dabei lediglich um den Vorplatz eines noch sichereren Unterschlupfs handelte. Der Familienlegende zufolge entdeckte Girin den Spalt, der später zum Eingang des Schreins wurde. Diti hatte ihn auf den Boden gesetzt, um sich nach einer Stelle umzusehen, wo sie die zuvor gesammelten Bananen aufbewahren konnte. Sie ließ ihn nur einen Moment aus den Augen, doch Girin konnte schon sehr gut krabbeln, und als sie sich umdrehte, war er verschwunden.
    Sie stieß einen Schrei aus, weil sie glaubte, er sei über die Abbruchkante in die Tiefe gestürzt, doch dann hörte sie seine von den Felswänden widerhallende Stimme. Sie schaute sich um, und als sie ihn nirgends sah, trat sie an den Spalt, betastete die Felskanten mit den Fingern und schob dann die Hand in die Öffnung. Es war kühl da drinnen, wo sich der Spalt offenbar verbreiterte, und so stieg sie hinein und stolperte fast augenblicklich über ihren kleinen Sohn.
    Sobald sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte sie, dass sie sich in einer Höhle befand, die früher einmal bewohnt gewesen war: Brennholzstapel reihten sich an den Wänden, und sie sah mehrere Feuersteine. Der Boden war mit Spelzen übersät, und beinahe hätte sie sich an den Scherben einer zerbrochenen Kalebasse die Füße zerschnitten. In einer Ecke fanden sich sogar Häufchen vertrockneter menschlicher Exkremente, so alt, dass sie geruchlos geworden waren. Es war seltsam, dass etwas, was anderswo Abscheu hervorgerufen hätte, hier beruhigend wirkte, als Beweis dafür, dass die Höhle früher einmal Menschen beherbergt hatte und nicht etwa Geister, Kobolde oder Dämonen.
    Als das Unwetter losbrach und der Sturm pfiff und heulte, schichtete sie etwas Holz auf und steckte es mit den Feuersteinen in Brand. Nun entdeckte sie da und dort Bilder, mit Kohlestückchen auf die kreideweißen Wände gezeichnet; manche davon sahen aus wie Strichmännchen von Kinderhand. Als Girin wegen des tobenden Sturms laut zu weinen anfing, brachten die alten Bilder Diti auf den Gedanken, selbst etwas an die Wand zu zeichnen.
    »Schau«, sagte sie zu ihrem Sohn, »er ist hier bei uns, dein Vater. Hab keine Angst, er ist an unserer Seite … «
    Und so zeichnete sie das erste ihrer Bilder: eine überlebensgroße Darstellung von Kalua.
    In späteren Jahren fragten ihre Kinder und Enkel oft, warum so wenig von ihr selbst, von ihren eigenen Erlebnissen auf der Plantage an den Wänden des Schreins zu sehen sei und so viel von ihrem Mann und seinen Kameraden, den anderen Flüchtlingen. Ihre Antwort war: »Ekut, für mich war das Bild eures Großvaters nicht wie die Gestalt eines ero auf einem Gemälde; es war real, es war die vérité. Immer wenn ich es schaffte, hier heraufzukommen, dann, um mit ihm zusammen zu sein. Mein eigenes Leben musste ich jede sekonn jedes Tages ertragen: Wenn ich hier war, war ich bei ihm … «
    Mit diesem ersten, überlebensgroßen Bild begannen stets die Besichtigungen des Schreins. Wie im wahren Leben, war Kalua auch hier größer und mächtiger als irgendjemand sonst, so schwarz wie Krishna selbst. Im Profil dominierte er, einen langot um die Hüfte geknotet, die Wand wie ein alles bezwingender Pharao. Unter seinen Füßen stand, in einer dekorativen Kartusche von anderer Hand eingraviert, der Name, den man ihm im Lager der Kontraktarbeiter in Kalkutta verpasst hatte – »Maddow Colver«.
    Wie
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