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Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Der rauchblaue Fluss (German Edition)

Titel: Der rauchblaue Fluss (German Edition)
Autoren: Amitav Ghosh
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Planeten und die Linien in ihren Handflächen? Glaubten sie nicht, dass jedes dieser Zeichen Schicksalhaftes offenbaren konnte, jedenfalls für Menschen, die sich darauf verstanden, ihre Geheimnisse zu enträtseln? Warum glaubten sie dann nicht auch an den Wind? Sterne und Planeten wanderten schließlich auf vorgezeichneten Bahnen – der Wind aber, niemand wisse, wohin der Wind wehen wird. Der Wind sei die Kraft der Veränderung, der Umwandlung, das habe sie an jenem Tag begriffen, sie, Diti, die immer daran geglaubt habe, dass ihr destenn in den Sternen und Planeten liege; sie habe begriffen, dass der Wind es war, der beschlossen hatte, dass es ihr Karma sei, nach Mauritius zu gelangen, in ein anderes Leben; der Wind sei es gewesen, der einen Sturm herabgeschickt hatte, um ihren Mann zu befreien …
    Und hier wandte sie sich dem Bild »Die Trennung« zu und zeigte auf seinen vielleicht faszinierendsten Aspekt: den Sturm selbst. Sie hatte ihn so gezeichnet, dass er den oberen Teil des Bildes in ganzer Breite einnahm: Er war als gigantische Schlange dargestellt, die sich in immer kleiner werdenden Kreisen von außen nach innen ringelte und im Zentrum in einem riesigen Auge endete.
    »Seht selbst«, sagte sie dann zu den Skeptikern, »ist das kein Beweis? Hätte ich nicht gesehen, was ich sah, wie hätte ich mir jemals vorstellen können, dass ein tufaan ein Auge haben kann?«

Zweites Kapitel
    D ie Colvers waren auch nicht leichtgläubiger als andere Leute, und hätten keine plausiblen Gründe dagegengesprochen, wären es die meisten von ihnen zufrieden gewesen, »Die Trennung« lediglich als ein ungewöhnliches Familienandenken zu betrachten. Nil fiel es zu, der Famie klarzumachen, dass Ditis Darstellung der »Trennung« zumindest in einem Punkt wahrhaft visionär war: Sie hatte den Sturm mit einem Auge in der Mitte dargestellt. Das verriet ein Wissen um das Wesen von Wirbelstürmen, das für die damalige Zeit nicht nur ungewöhnlich, sondern geradezu revolutionär war, denn erst 1838, im Jahr jenes Wirbelsturms, stellte zum ersten Mal ein Wissenschaftler die Hypothese auf, Zyklone könnten aus Winden bestehen, die um ein stilles Zentrum rotieren – mit anderen Worten, um ein Auge.
    Zu dem Zeitpunkt, als Nil zum ersten Mal den Morne bestieg, war die Ansicht, dass Stürme um ein Auge herum rotieren, schon fast ein Gemeinplatz, doch diese Idee hatte bei Nil einen so tiefen Eindruck hinterlassen, dass er sich sehr deutlich an seine erste Begegnung mit diesem Phänomen etwa zehn Jahre zuvor erinnerte. Er hatte in einer Zeitschrift davon gelesen und war überrascht und fasziniert von dem Bild gewesen, das es heraufbeschwor – von einem gigantischen Auge am Ende eines großen, rotierenden Fernrohrs, das alles, worüber es hinwegzog, untersuchte, manche Dinge auf den Kopf stellte und andere unbehelligt ließ, nach neuen Möglichkeiten Ausschau hielt, Neuanfänge bewirkte, Schicksale umschrieb und Menschen zusammenwarf, die einander sonst nie begegnet wären.
    In der Rückschau gab dieses Bild seiner eigenen Erfahrung des Sturms Sinn und Form, und doch hatte er damals keinerlei Vorstellung von seiner Bedeutung gehabt. Wie war es dann aber möglich, dass Diti, einer des Lesens und Schreibens unkundigen, verängstigten jungen Frau, diese Einsicht gewährt worden war? Dies obendrein zu einer Zeit, als nur eine Handvoll der fortschrittlichsten Wissenschaftler von dem Phänomen wusste? Es war ein Mysterium, das stand für Nil außer Zweifel. Deshalb hatte er, wenn er zuhörte, wie Diti die Geschichte erzählte, das Gefühl, dass Ditis Stimme ihn ins Auge des Sturms zurücktrug.
    »Und jetzt schreien mir der Serang und die anderen in die Ohren: Alo-alo! Alé-alé! Und euer Großvater, der Himmel weiß, wie groß er ist, wie schwer und byin-bati. Er geht an die Reling, und ich knie vor ihm nieder: ›Nehmt mich mit, nehmt mich mit‹, flehe ich ihn an, aber er stößt mich weg: ›Nein, nein! Du musst an dein Kind denken; du kannst nicht mit!‹ Und dann klettern sie alle in das Boot – und um uns herum tobt der tufaan, er tobt und tobt; ein Wimpernschlag, und das Boot legt ab. Im nächsten Moment ist es verschwunden … «
    Nil spürte fast die Planken des Bootes, die unter seinen Füßen bebten, den Regen, der ihm ins Gesicht peitschte: Es war alles so real, dass er dankbar war, als ihn die Kinder am Ärmel zupften und in den Schrein zurückholten: »Was war dann, Nil-mawsa? Hattest du keine Angst?«
    »Nein, damals nicht.
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