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Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis
Autoren: Andreas Eschbach
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müssen.«
    »Ja«, sagte ich und trat beiseite. »Klar. Entschuldige, ich … Ich wollte dich nicht … Ihm wird kalt sein, nicht wahr?«
    »Ihm ist bestimmt nicht kalt. Nur langweilig.« Ihr Blick bekam etwas Wachsames. »Gunnar, was ist mit dir?«
    »Nichts. Wirklich.«
    Sie holte kurz entschlossen eine Flasche Tee aus dem Korb, schraubte den Deckel über dem Sauger ab und reichte sie ihrem Sohn, der begeistert zu nuckeln begann. »Erzähl.«
    Ich öffnete den Mund, um zu beteuern, dass es nichts zu erzählen gäbe, aber dann brach es doch aus mir heraus, alles, die Geschichte mit Hans-Olof, die Geschichte mit Inga, in Sätzen, die in meinen eigenen Ohren sinnlos klangen, wie sie da zusammen mit dünnen weißen Atemwolken aus meinem Mund kamen, doch Inga schien trotzdem zu verstehen.
    »Ich war es selbst, verstehst du?«, sagte ich zum Schluss, mit einer Stimme, die zitterte. »Dieser Albtraum von Welt, in dem ich mein ganzes Leben lang gelebt habe, den habe ich mir selber gemacht. Ich habe mich eingemauert, habe mir aus Angst und Misstrauen mein eigenes Gefängnis gebaut. Ich wollte Inga beschützen, meine Familie … aber letzten Endes habe ich sie genau dadurch umgebracht. Wie soll ich das jemals wieder gutmachen? Wie soll ich da jemals herauskommen?«
    »Aber Gunnar«, sagte Lena leise. »Du bist doch schon draußen.«
    »Was?«
    Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Was du erzählst, kann nur jemand erzählen, der schon außerhalb des Gefängnisses steht. Wieder gutmachen … man kann nichts wieder gutmachen, was geschehen ist. Aber Inga würde nicht wollen, dass du deswegen vor deinem Gefängnis stehen bleibst. Sie würde wollen, dass du dich umdrehst und gehst und den Rest deines Lebens in Freiheit lebst.«
    Damit griff sie meine Hand, drückte sie und lächelte. Nur kurz, und sie ließ gleich wieder los, weil ihr Sohn die Teeflasche leer hatte und wieder zu quengeln anfing und es nun aber wirklich Zeit war zu gehen. Ich blickte ihr nach, wie sie mit dem Kleinen davon und um die Ecke zog, mit einem letzten Winken, und das war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe.
    Aber wenn ich heute daran zurückdenke, dann bin ich überzeugt, dass ich nicht mehr am Leben wäre, wenn ich sie nicht getroffen und wenn sie meine Hand nicht gedrückt hätte.
     
    Den Rest des Nachmittags fuhr ich mit der U-Bahn, planlos, ziellos, mit tränenblinden Augen, starrte aus Fenstern und sah nichts, stieg an Endstationen aus und gleich wieder ein, bis sich das Wunder – ich kann es nicht anders nennen – vollendet hatte. Als ich wieder an die Oberfläche stieg, tat ich es mit einem Gefühl, das dem am Morgen nach einer Nacht der Fieberkrise ähnelte: Das Fieber ist noch nicht ganz verschwunden, aber man ist auf dem Weg der Besserung. Ich war wieder imstande, zu verstehen, was eine Uhr anzeigte, und Pläne zu machen für die kommenden Stunden.
    Zuerst erfüllte ich ein Versprechen: Ich rief Sofía Hernández Cruz im Grand Hotel an und berichtete ihr, wie die Sache ausgegangen war. Dann verbrachte ich die Zeit, die blieb, bis die Läden schlossen, mit der wundervoll banalen Tätigkeit, mich nach Möbeln für meine neue Wohnung umzusehen.
    Gegen halb neun Uhr abends betrat ich schließlich das Serwito in der Regeringsgatan. Ein intensiver Geruch nach frischen Spaghetti, Tomatensoße und Knoblauch empfing mich sowie ein Kellner, der wissen wollte, ob ich reserviert hatte. Sein skeptischer Blick brachte mir zu Bewusstsein, dass auch eine Generalüberholung meines Äußeren anstand.
    »Nein«, gab ich zu. »Aber ich will nur nachsehen, ob jemand Bestimmtes hier ist.«
    »Bitte«, sagte der Kellner und gab den Weg frei, aber in dem Wort schwang ein ich behalte Sie im Auge mit.
    Der, den ich suchte, war tatsächlich da. Nicht nur das, er saß auch, umfangreich und unübersehbar, an genau dem Tisch, an dem ich ihn anzutreffen erhofft hatte. Ein Mann mit unveränderlichen Ritualen.
    »Sie sehen mich erstaunt«, sagte Tove Mårtensson gänzlich unerstaunt und musterte mich über den oberen Rand seiner schmalen Brille hinweg, als ich ihm gegenüber Platz nahm. Er hatte einen großen Antipasti-Teller und eine angebrochene Flasche Chianti vor sich, die unter Garantie vom hochpreisigen Ende der Karte stammte. »Ich darf doch davon ausgehen, dass Sie nicht einfach nur zufällig hier sind und mal Hallo sagen wollten?«
    »Stimmt«, sagte ich. »Ich möchte Sie um etwas bitten.«
    Mårtensson spießte eine getrocknete, in Öl
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