Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nobelpreis

Der Nobelpreis

Titel: Der Nobelpreis
Autoren: Andreas Eschbach
Vom Netzwerk:
beiden der schlechtere Mensch ist …«
    »Jedenfalls«, sagte ich dazwischen, »ist immer noch unklar, wo Kristina steckt. Ich denke, über eventuelle Abhebungen von ihrem Sparbuch kann die Polizei sie vielleicht ausfindig machen. Ich werde also morgen –« Ein eigentümlicher Ausdruck in Birgittas Gesicht ließ mich innehalten. »Was ist?«
    »Ich weiß es vielleicht«, stieß sie hervor. »Ich weiß, wo sie sein könnte.«
    Sie sprang auf, lief zu ihrem Schreibtisch, holte eines der Hefte, die dort lagen, und brachte es mir. »Hier, Kristinas Aufsätze.« Sie blätterte darin. Es war ein ziemlich dickes Heft, wohl für zwei Schuljahre auf einmal gedacht. »Sie hat vor einem halben Jahr einen Aufsatz geschrieben, den du mal lesen solltest. Die Aufgabe war, über ein Familienmitglied zu schreiben.« Sie reichte mir das Heft.
    Der Aufsatz datierte vom Mai und trug den Titel Meine Oma.
    Meine Oma wohnt in Vimmerby, in einem hübschen kleinen Haus im Djursdalavägen. Sie ist die Mutter meines Vaters, aber der kümmert sich überhaupt nicht um sie. Wir besuchen sie höchstens einmal im Jahr. Mein Vater sagt, es lohnt sich sowieso nicht, weil sie uns gleich wieder vergisst, nachdem wir gegangen sind. Meine Oma hat nämlich Alzheimer. Das ist eine Krankheit, bei der man sich nichts mehr merken kann. Man erinnert sich nur noch an Sachen aus der Kindheit, aber man weiß nicht mehr, was am Tag vorher los war. Wenn wir mal dort sind, erzählt mir meine Oma oft Geschichten aus der Zeit, als sie selber ein Kind war, oft sogar dieselben, manchmal zweimal pro Stunde. Wenn ich dann sage: » Das hast du mir gerade eben erst erzählt « , dann lacht sie und sagt: » Ach wirklich? Ja, ich werde vergesslich. «
    Birgitta nahm mir das Heft ungeduldig aus der Hand, blätterte weiter, zeigte auf eine Stelle. »Hier.«
    Ich denke oft an meine Oma, wie sie da alleine in dem kleinen Haus sitzt und fernsieht. Zweimal am Tag kommt jemand und kümmert sich um sie, den Rest kann sie noch alleine machen. Aber die Frau, die nach ihr sieht, meint, dass das nicht mehr lange gut gehen wird, weil meine Oma inzwischen oft sogar das Essen vergisst, obwohl es fertig auf dem Herd steht. Bei dem Gedanken, dass meine Oma ins Heim soll, werde ich ganz traurig. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich zu ihr ziehen und mich um sie kümmern, ihr den Haushalt machen, einkaufen, die Wäsche waschen, kochen, putzen und so weiter, alles, was Aimée mir beigebracht hat. Dann könnte meine Oma in ihrem Haus wohnen bleiben, an das sie gewöhnt ist und in dem sie sich wohl fühlt und in dem es mir auch gut gefällt.
    Ich reichte ihr das Heft zurück. »Zieh dir was an.«
     
    Es war schon stockdunkel, als wir in Vimmerby ankamen. Wir fragten uns nach dem Djursdalavägen durch, parkten den Wagen und gingen dann die schmale, stille Straße ab, an der entlang sich kleine, dunkle Holzhäuser hinter weiße Holzzäune und hohe Büsche duckten. Es schneite leicht, und es war deutlich kälter als in Stockholm. Ein unheimliches, klopfendes Geräusch hallte von irgendwoher, während wir auf der Suche nach dem Namen Andersson von Briefkasten zu Briefkasten und von Klingelschild zu Klingelschild gingen.
    »Meinst du, sie hat das womöglich nur erfunden?«, fragte Birgitta, als wir uns langsam dem Ende der Straße und der Quelle des klopfenden Geräuschs näherten und uns allmählich die Häuser ausgingen. »Ich meine, bei dem Vater …?«
    »Die Großmutter gibt es«, knurrte ich. »Es ist Hans-Olofs Mutter. Ich wusste bisher nur, dass sie irgendwo in Småland lebt und geistig seit langem auf dem absteigenden Ast ist.«
    Das klopfende Geräusch kam vom letzten Haus auf der rechten Seite. Es lag im Dunkeln. Im Schein des Lichts, das aus einem Fenster drang, hackte jemand Holz, eine untersetzte Gestalt in einer dicken Winterjacke und mit einer mächtigen Zipfelmütze auf dem Kopf. Die Axt kam regelmäßig wie ein Pendel nieder, und die Scheite stoben nach allen Seiten.
    Auf dem Briefkasten stand überhaupt kein Name. » Hej! « , rief ich. » God kväll! «
    Die Gestalt hielt inne. » Vad står på? «, fragte eine helle Stimme. Die Stimme eines Mädchens.
    »Kristina?«, rief Birgitta aus. »Bist du das?«
    Das Mädchen legte die Axt beiseite. Im Näherkommen streifte sie die Mütze ab, und helles, blondes Haar fiel ihr über die Schultern. Es war Kristina, natürlich.
    Und ich kannte das Haus. Über dem Schreibtisch in ihrem Zimmer hing ein Foto davon.
    »Frau Nykvist?«,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher