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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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Kreis oder Ring. Es gibt viele solcher Querverbindungen zum Phänomen Zirkus im historischen Sinn, auch wenn dieser hier mit einem traditionellen Zirkus wenig zu tun hat. Statt aus einem einzelnen großen runden Zelt setzt sich dieser Zirkus aus pyramidenartigen Zeltgruppen zusammen, einige größer, andere recht klein. Sie stehen an ringförmigen Pfaden, umgeben von einem ringförmigen Zaun. Durchgängig und geschlossen.
    – Friedrick Thiessen, 1892
    Der Träumer braucht nur den Mond, um sich zurechtzufinden, und zur Strafe sieht er den Morgen schon vor dem Rest der Welt.
    – Oscar Wilde, 1888

Unerwartete Post
    NEW YORK, FEBRUAR 1873
    D er Zauberkünstler Prospero bekommt immer ziemlich viel Post über das Theaterbüro, aber dies ist der erste Abschiedsbrief einer Toten, der ihn erreicht, und auch der erste Brief, der ihm am Mantelaufschlag eines fünfjährigen Mädchens überbracht wird.
    Der Rechtsanwalt, der mit dem Mädchen ins Theater kommt, verweigert dem protestierenden Direktor jede Erklärung, er setzt es einfach ab, zuckt die Schultern, tippt sich an den Hut und verschwindet.
    Der Theaterdirektor muss den Brief gar nicht erst lesen, um zu wissen, wer das Mädchen ist. Die hellen Augen unter den unbändigen braunen Locken sind kleine, weit geöffnete Abbilder der Augen des Zauberers. Er nimmt sie an die Hand, ihre kleinen Finger liegen zaghaft in seinen. Trotz der Wärme im Theater weigert sie sich, ihren Mantel auszuziehen, und schüttelt auf Fragen nach dem Grund immer nur beharrlich den Kopf.
    Der Direktor nimmt das Mädchen mit in sein Büro, da er nicht weiß, was er sonst mit ihr anfangen soll. Umgeben von Schachteln mit Eintrittskarten und Kassenbelegen, sitzt sie still auf einem unbequemen Stuhl unter einer Reihe alter eingerahmter Zirkusplakate. Der Direktor bringt ihr einen Tee mit einem Extrastück Zucker, den sie aber nicht trinkt und kalt werden lässt.
    Das Mädchen rührt und regt sich nicht auf seinem Stuhl. Mit im Schoß gefalteten Händen sitzt sie mucksmäuschenstill da. Ihr Blick ist auf ihre knapp über dem Boden baumelnden Stiefel gerichtet. Eine Schuhspitze ist abgewetzt, aber sie sind tadellos gebunden. Der versiegelte Umschlag bleibt am zweitobersten Knopf ihres Mantels hängen, bis Prospero eintrifft.
    Sie hört ihn, noch ehe sich die Tür öffnet, denn im Gegensatz zum vorsichtigen Gang des Direktors, der mehrmals wie auf Samtpfoten ein und aus gegangen war, hallen Prosperos schwere Schritte im Gang wider.
    »Da ist noch eine, ähm, Sendung für Sie«, sagt der Direktor beim Öffnen der Tür, führt ihn in das beengte Büro und stiehlt sich davon, um andere Angelegenheiten zu erledigen und dem Treffen nicht beiwohnen zu müssen.
    Der Zauberer steht in seinem weißgesäumten Samtumhang mit einem Stapel Briefe in der Hand im Büro und schaut sich nach einer Schachtel oder Kiste um. Erst als das Mädchen zu ihm aufblickt und er seine eigenen Augen erkennt, versteht er, was der Direktor gemeint hat.
    Zauberer Prosperos erste Reaktion auf die Begegnung mit seiner Tochter ist ein schlichtes »Verdammt«.
    Das Mädchen blickt wieder auf seine Schuhe.
    Der Zauberer schließt die Tür hinter sich, lässt den Briefstapel auf den Schreibtisch neben die Teetasse fallen und mustert das Mädchen.
    Er reißt ihr den Umschlag vom Mantel, ohne die Klammer vom Knopf zu lösen.
    Obwohl der Brief an seinen Künstlernamen adressiert ist, wird er im beiliegenden Schreiben mit seinem richtigen Namen angesprochen: Hector Bowen.
    Er überfliegt den Inhalt, ohne auch nur die geringste Regung zu zeigen, die der Verfasser gewünscht haben könnte. Nur eine Stelle ist ihm wichtig und lässt ihn innehalten: dass dieses Mädchen, das sich nun in seiner Obhut befindet, offenbar seine Tochter ist und dass sie Celia heißt.
    »Sie hätte dich Miranda nennen sollen«, sagt der Zauberer kichernd zu dem Mädchen. »Aber wahrscheinlich war sie dazu nicht schlau genug.«
    Das Mädchen blickt wieder zu ihm hoch. Dunkle schmale Augen unter üppigen Locken.
    Die Teetasse auf dem Schreibtisch beginnt zu wackeln. Die Oberfläche der Flüssigkeit schlägt kleine Wellen, und über die Glasur ziehen sich Risse; dann zerfällt das geblümte Porzellan in Scherben. Der kalte Tee überschwemmt die Untertasse und tropft auf den Boden, wo er auf dem gebohnerten Holz klebrige Spuren zieht.
    Das Lächeln des Zauberers verschwindet. Mit gerunzelter Stirn schaut er auf den Schreibtisch, und die Teepfütze erhebt sich langsam wieder
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