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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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Theater. Wie ein Schatten bewegt er sich auf der immer noch belebten Straße.
    *
    Hector Bowen kichert in seiner Garderobe vor sich hin, während seine Tochter reglos in der Ecke steht und die Narbe an ihrer Hand betrachtet. Der Schmerz ist so schnell verschwunden wie der Ring, aber die rote Narbe bleibt.
    Hector nimmt die silberne Taschenuhr vom Tisch und vergleicht die Zeit mit der Uhr an der Wand. Langsam zieht er die Uhr auf und sieht aufmerksam zu, wie die Zeiger um das Zifferblatt kreisen.
    »Celia«, fragt er, ohne sie anzusehen, »warum müssen wir die Uhr aufziehen?«
    »Weil alles Energie braucht«, antwortet sie gehorsam, den Blick noch immer auf ihre Hand gerichtet. »Wir müssen Energie und Mühe in alles stecken, was wir verändern möchten.«
    »Sehr gut.« Er schüttelt die Uhr vorsichtig und steckt sie wieder in die Tasche.
    »Warum hast du den Mann Alexander genannt?«, fragt Celia.
    »Das ist eine dumme Frage.«
    »Aber so heißt er nicht.«
    »Woher willst du das wissen?«, fragt Hector seine Tochter, dreht ihr Kinn in seine Richtung und taxiert ihre dunklen Augen.
    Celia erwidert seinen Blick und weiß nicht, wie sie es ihm erklären soll. Sie ruft sich den Mann im grauen Anzug in Erinnerung, seine hellen Augen und die strengen Züge, und überlegt, warum der Name nicht richtig zu ihm passt.
    »Das ist nicht sein Name«, sagt sie. »Jedenfalls nicht der, den er immer hatte. Er trägt ihn wie seinen Hut. Damit er ihn ablegen kann, wenn er will. So wie bei dir mit Prospero.«
    »Du bist noch klüger, als ich gehofft habe«, sagt Hector, ohne sich zu ihren Zweifeln am Namen seines Kollegen zu äußern. Er nimmt den Zylinder vom Ständer und stülpt ihn ihr über den Kopf, so dass er ihren fragenden Blick unter einem Käfig aus schwarzer Seide verhüllt.

Grautöne
    LONDON, JANUAR 1874
    D as Gebäude ist so grau wie der Gehweg davor und der Himmel darüber, und es wirkt so unbeständig wie die Wolken, als könnte es sich jederzeit in Luft auflösen. Durch den unscheinbaren grauen Stein ist es von den umliegenden Häusern kaum zu unterscheiden, nur ein mattes Schild an der Tür hebt es ein wenig hervor. Selbst die Schulleiterin im Inneren ist in dunkles Anthrazit gekleidet.
    Trotzdem wirkt der Mann im grauen Anzug fehl am Platz.
    Sein Anzug ist streng geschnitten. Der Griff seines Gehstocks unter den makellosen Handschuhen zu blank poliert.
    Er stellt sich vor, aber die Schulleiterin vergisst seinen Namen fast augenblicklich und findet es peinlich, noch einmal nachzufragen. Als er später die erforderlichen Papiere unterschreibt, ist seine Schrift vollkommen unleserlich, und das entsprechende Formular geht, wenige Wochen nachdem es abgeheftet wurde, verloren.
    Er nennt ungewöhnliche Auswahlkriterien für seine Suche. Die Schulleiterin ist verwirrt, aber nach einigen Fragen und Klarstellungen bringt sie ihm drei Kinder: zwei Jungen und ein Mädchen. Der Mann möchte sie allein befragen, worauf die Schulleiterin widerstrebend eingeht.
    Das Gespräch mit dem ersten Jungen dauert nur wenige Minuten, dann wird er weggeschickt. Als er durch den Flur geht, sehen ihn die beiden anderen neugierig an, doch er schüttelt nur den Kopf.
    Mit dem Mädchen dauert es etwas länger, aber auch sie wird weggeschickt, verwirrt und mit gerunzelter Stirn.
    Dann wird der zweite Junge in das Zimmer gebracht, um mit dem Mann im grauen Anzug zu sprechen. Er wird zu einem Stuhl gegenüber einem Schreibtisch geführt; der Mann bleibt in der Nähe stehen.
    Dieser Junge zappelt nicht so herum wie der erste. Ruhig und geduldig sitzt er da, die graugrünen Augen nehmen fast unmerklich jede Einzelheit im Raum auf und betrachten den Mann, wachsam, aber nicht unverhohlen starrend. Sein dunkles Haar ist schlecht geschnitten, als wäre der Friseur bei der Arbeit zerstreut gewesen, allerdings hat der Junge versucht, das Schlimmste auszugleichen. Seine Kleider sind zerlumpt, aber gut gepflegt; die Hose ist zu kurz und war irgendwann vielleicht blau, braun oder grün – sie ist zu verwaschen, um es genau sagen zu können.
    »Wie lange bist du schon hier?«, fragt der Mann, nachdem er eine Weile stumm die schäbige Erscheinung des Jungen geprüft hat.
    »Schon immer«, sagt der Junge.
    »Wie alt bist du?«
    »Im Mai werde ich neun.«
    »Du siehst jünger aus.«
    »Ich habe nicht gelogen.«
    »Das wollte ich damit auch nicht unterstellen.«
    Der Mann im grauen Anzug starrt den Jungen eine Zeitlang schweigend an.
    Der Junge starrt
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