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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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Zauberer und sein bescheidenes Publikum. Die Zuschauer scheinen angetan von den Täuschungsmanövern und applaudieren oft höflich.
    Als er seinem Lehrmeister nach der Aufführung Fragen stellt, wird ihm gesagt, sie würden erst nach ihrer Rückkehr in London über die Sache reden.
    Am nächsten Abend wird der Junge in ein größeres Theater gebracht und während der Vorführung erneut allein gelassen. Die Masse der Zuschauer macht ihn nervös, noch nie ist er mit so vielen Menschen in einem Raum gewesen.
    Der Mann auf der Bühne wirkt älter als der Zauberer vom Vorabend. Er trägt einen schöneren Anzug. Seine Bewegungen sind präziser. Jedes Kunststück ist nicht nur ungewöhnlich, sondern bestechend.
    Der Applaus ist mehr als höflich.
    Und dieser Zauberer versteckt keine Taschentücher in seinen spitzenbesetzten Ärmelaufschlägen. Die Vögel, die aus allen möglichen Ecken hervorstieben, haben keine Käfige. Solche Nummern hat der Junge bislang nur in seinem Unterricht gesehen. Zauberstücke und Vorführungen, die man, so hatte er eingebläut bekommen, unbedingt geheim halten muss.
    Der Junge applaudiert ebenfalls, als der Zauberkünstler Prospero sich am Ende verbeugt.
    Wieder verweigert ihm sein Lehrer jegliche Antwort auf seine Fragen und vertröstet ihn auf London.
    Als sie zurück sind und ihre gewohnte Routine aufnehmen, die, so kommt es ihm jetzt vor, nie unterbrochen war, fragt der Mann im grauen Anzug den Jungen nach dem Unterschied zwischen den beiden Vorstellungen.
    »Der erste Mann hat Apparate und Spiegel benutzt und die Zuschauer dazu gebracht, woandershin zu schauen, wenn er wollte, dass sie etwas nicht sehen. Der zweite Mann, der mit dem Namen des Herzogs in Shakespeares Sturm , hat so getan, als würde er ähnliche Kunststücke vorführen, aber bei ihm gab es keine Spiegel oder Tricks. Er hat alles so gemacht wie
Sie.«
    »Sehr gut.«
    »Kennen Sie den Mann?«, fragt der Junge.
    »Ich kenne ihn schon sehr lange«, sagt sein Lehrmeister.
    »Unterrichtet er auch solche Sachen wie Sie?«
    Sein Lehrmeister nickt, geht aber nicht näher darauf ein.
    »Wie ist es möglich, dass die Zuschauer den Unterschied nicht sehen?«, fragt der Junge. Für ihn ist die Sache klar, auch wenn er nicht genau sagen kann, warum. Es lag irgendetwas in der Luft, etwas, das er mit eigenen Augen beobachten konnte.
    »Die Leute sehen, was sie sehen wollen. Und in den meisten Fällen sehen sie das, was man ihnen sagt.«
    Damit ist die Unterhaltung über das Thema beendet.
    Es finden noch weitere vermeintliche Urlaube statt, wenn auch sehr selten, aber den Zauberer bekommt der Junge nicht mehr zu sehen.
    *
    Zauberer Prospero ritzt seiner weinenden Tochter mit einem Taschenmesser die Fingerkuppen auf, eine nach der anderen, und sieht schweigend zu, wie sie sich beruhigt und die Blutstropfen langsam wieder zurückfließen lässt.
    Die Haut wächst zu, die Rillen der Fingerabdrücke finden zusammen und vereinen sich wieder.
    Celia lässt die verkrampften Schultern sinken, und die Anspannung fällt sichtlich von ihr ab.
    Ihr Vater gönnt ihr nur eine kurze Ruhepause, ehe er ihre frisch verheilten Finger erneut aufritzt.
    *
    Der Mann im grauen Anzug zieht ein Taschentuch aus seiner Jacke und lässt es auf den Tisch fallen, wo es mit dumpfem Schlag landet, weil in dem seidigen Stoff etwas Schweres verborgen ist. Er hebt das Tuch hoch und lässt den Inhalt, einen goldenen Ring, auf den Tisch rollen. Der Ring ist leicht angelaufen und trägt eine Gravur, die in den Augen des Jungen lateinisch sein könnte, aber die Schrift ist geschwungen und schnörkelig, er kann sie nicht entziffern.
    Der Mann im grauen Anzug steckt das nunmehr leere Taschentuch wieder in die Jacke.
    »Heute beschäftigen wir uns mit Bindungen«, sagt er.
    Als sie zum praktischen Teil der Stunde kommen, weist er den Jungen an, sich den Ring anzustecken. Er berührt den Jungen nie, unabhängig von den Umständen.
    Der Junge versucht vergeblich, sich den Ring vom Finger zu ziehen, als der sich in seiner Haut auflöst.
    »Bindungen sind dauerhaft, mein Junge«, sagt der Mann im grauen Anzug.
    »Woran bin ich denn gebunden?«, fragt der Junge und sieht stirnrunzelnd auf die Narbe, wo kurz zuvor noch der Ring gewesen war.
    »An eine Verpflichtung, die du schon eingegangen bist, und an eine Person, der du erst später begegnest. Die Einzelheiten sind nicht wichtig. Dies ist nur eine notwendige Formsache.«
    Der Junge nickt nur und fragt nicht weiter, aber in der Nacht,
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