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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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wetten, dass das Alter von allen an diesem Vorhaben Beteiligten zusammengerechnet Ihres übersteigt.«
    »Vielleicht.«
    »Und ich weiß nicht genau, welchen Regeln Ihr Spiel gefolgt ist, aber ich glaube, das hier schulden Sie uns, wenn wir alle um Ihrer Wette willen in Gefahr waren.«
    Der Mann im grauen Anzug seufzt. Er schaut kurz zum Fenster, doch der Schatten von Hector Bowen ist nirgendwo zu sehen.
    Falls der Zauberer Prospero eine Meinung zu diesem Thema hat, möchte er sie offenbar nicht zum Ausdruck bringen.
    »Ich glaube, das ist ein berechtigtes Argument«, sagt der Mann im grauen Anzug nach kurzem Überlegen. »Aber ich bin dir nichts schuldig, junger Mann.«
    »Und warum sind Sie dann hier?«, fragt Widget.
    Der Mann lächelt, sagt aber nichts.
    »Ich verhandle im Grunde um ein bereits benutztes Spielfeld«, fährt Widget fort. »Sie haben keine Verwendung mehr dafür. Für mich ist es sehr wichtig. Das lasse ich mir nicht ausreden. Nennen Sie mir den Preis.«
    Das Lächeln des Mannes im grauen Anzug wird beträchtlich strahlender.
    »Ich möchte eine Geschichte«, sagt er.
    »Eine Geschichte?«
    »Ich möchte diese Geschichte. Deine Geschichte. Erzähle mir, was uns an diesen Ort geführt hat, an diesen Tisch, mit diesem Wein. Ich möchte keine Geschichte, die von hier kommt« – er tippt sich mit dem Finger an die Schläfe – »ich möchte eine, die hier sitzt.« Er hält für einen Moment die Hand übers Herz, bevor er sich zurücklehnt.
    Widget überdenkt das Angebot kurz.
    »Und Sie geben mir den Zirkus, wenn ich Ihnen die Geschichte erzähle?«, fragt er.
    »Ich reiche das wenige an dich weiter, was ich zu geben habe. Wenn wir diesen Tisch verlassen, habe ich keinen Anspruch mehr auf euren Zirkus, keine wie auch immer geartete Verbindung zu ihm. Wenn diese Weinflasche leer ist, endet eine Herausforderung, die lange vor deiner Geburt begann, und wird offiziell zum Patt erklärt. Das sollte genügen. Abgemacht, Mr Murray?«
    »Abgemacht«, sagt Widget.
    Der Mann im grauen Anzug schenkt sich den restlichen Wein ein. Das Kerzenlicht bricht sich in der leeren Flasche, als er sie wieder auf den Tisch stellt.
    Widget schwenkt seinen Wein im Glas. Wein ist Poesie in Flaschen, denkt er. Ein Gedanke, den er zum ersten Mal von Herrn Thiessen hörte, wenngleich er weiß, dass er einem Schriftsteller zugeschrieben wird, an dessen Namen er sich im Moment nicht erinnert.
    Es gibt so viele Möglichkeiten anzufangen.
    So viele Elemente zu bedenken.
    Er fragt sich, ob die Geschichte des Zirkus in eine Flasche passen würde.
    Widget trinkt einen Schluck Wein, stellt dann sein Glas auf den Tisch, lehnt sich zurück und erwidert den auf ihn gerichteten Blick. Er geht es an, als hätte er alle Zeit der Welt, von Anbeginn des Universums, als Geschichten noch mehr bedeutet haben als heute, aber vielleicht weniger, als sie in Zukunft bedeuten werden. Mit einem tiefen Atemzug löst sich der Wust von Wörtern in seinem Herzen, und sie gehen ihm mühelos über die Lippen.
    »Der Zirkus kommt überraschend.«

BONS RÊVES

    Nur wenige Menschen wandern in diesen Stunden vor Tagesanbruch mit dir durch den Cirque des Rêves. Einige tragen rote Schals, die vor dem Schwarz und Weiß besonders leuchten.
    Dir bleibt nicht viel Zeit, bis die Sonne unvermeidlich aufgeht, und du stehst vor der schwierigen Frage, wie du die übrigen Minuten der Nacht am besten verbringst. Solltest du noch ein letztes Zelt besuchen? Eines, in dem du schon warst und das du besonders gut fandest, oder ein unerforschtes, das ein Rätsel bleibt? Oder solltest du dir einen letzten Karamellapfel vor dem Frühstück kaufen? Die Nacht, die dir noch vor Stunden endlos vorkam, zerrinnt dir jetzt zwischen den Fingern, wird zur Vergangenheit und schiebt dich in Richtung Zukunft.
    Du verbringst die letzten Augenblicke im Zirkus nach deinem Belieben, denn es ist deine Zeit und nur deine. Aber irgendwann ist es so weit, und der Cirque des Rêves muss schließen, zumindest fürs Erste.
    Der sternenübersäte Tunnel ist bereits fort, nur ein einziger Vorhang trennt jetzt den Platz in der Mitte vom Eingang.
    Sobald er sich hinter dir schließt, fühlt sich der Abstand größer an und nicht nur wie ein paar Schritte, abgetrennt durch einen gestreiften Vorhang.
    Du zögerst vor dem Hinausgehen und bleibst stehen, um die raffiniert tanzende Uhr zu betrachten, deren Teile sich geschmeidig bewegen und im Sekundentakt ticken. Du siehst sie jetzt genauer als beim Eintreten,
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