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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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heiß in seiner Lunge. Er fällt auf den Boden, der nicht mehr verkohlt und matschig ist, sondern fest und trocken und mit einer schwarzweißen Spirale gemustert.
    Überall um ihn herum und entlang den Zelten leuchten Lichter auf, die wie Glühwürmchen flackern.
    *
    Marco steht unter dem Wunschbaum und sieht zu, wie die Kerzen auf den Zweigen sich entzünden.
    Einen Augenblick später erscheint Celia an seiner Seite.
    »Hat es funktioniert?«, fragt er. »Bitte, sag, dass es funktioniert hat.«
    Als Antwort küsst sie ihn, so wie er sie einst in einem vollen Ballsaal geküsst hat.
    Als wären sie die beiden einzigen Menschen auf der Welt.

TEIL V
    PROPHEZEIUNG
    Ich verstehe mich weniger als Schriftsteller denn als jemanden, der ein Tor öffnet, einen indirekten Weg, auf dem die Leser zum Zirkus gelangen. Um den Zirkus wieder zu besuchen, und sei es nur in Gedanken, wenn ihnen die persönliche Anwesenheit verwehrt ist. Ich vermittle es durch gedruckte Worte auf zerknittertem Zeitungspapier, Worte, die sie immer wieder lesen können, um so, wann immer sie wollen, zum Zirkus zurückzukehren, ganz gleich, um welche Tageszeit oder von welchem Ort aus. Worte, die sie nach Belieben dorthin befördern.
    So gesagt, klingt es doch wie Magie, oder?
    – Friedrick Thiessen , 1898
    Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler,
    wie ich euch sagte, waren Geister, und
    sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft.
    Wie dieses Scheines lockrer Bau, so werden
    die wolkenhohen Thürme, die Paläste,
    die hehren Tempel, selbst der große Ball,
    ja, was daran nur Theil hat, untergehn;
    und, wie dies leere Schaugepräg’ erblasst,
    spurlos verschwinden. Wir sind solcher Zeug
    wie der zu Träumen, und dieß kleine Leben
    umfasst ein Schlaf.
    – Prospero , Der Sturm , 4 . Aufzug, 1 . Szene

PROPHEZEITE SCHICKSALE

    Es ist spät, deshalb steht keine Schlange mehr bei der Wahrsagerin an.
    Während die kühle Nachtluft draußen nach Karamell und Rauch duftet, ist dieses Zelt warm und riecht nach Weihrauch, Rosen und Bienenwachs.
    Du musst nicht lange im Vorraum warten, dann kannst du durch den Perlenvorhang gehen.
    Es klingt wie Regen, wenn die Perlen zusammenstoßen. Der dahinter liegende Raum ist mit Kerzen gesäumt.
    Du setzt dich an den Tisch in der Mitte des Raums. Dein Stuhl ist erstaunlich bequem.
    Das Gesicht der Wahrsagerin ist hinter einem zarten schwarzen Schleier versteckt, doch das Licht spiegelt sich in ihren Augen, als sie lächelt.
    Sie hat keine Kristallkugel. Kein Kartenspiel.
    Nur eine Handvoll glitzernder Silbersterne, die sie über den mit Samt bedeckten Tisch verstreut und wie Runen liest.
    Sie weiß verblüffend genau über Dinge Bescheid, von denen sie nichts wissen kann.
    Sie spricht von Tatsachen, die dir bereits bekannt waren. Teilt dir Dinge mit, die du dir hättest denken können. Eröffnet Möglichkeiten, die du nicht fassen kannst.
    Die Sterne auf dem Tisch scheinen sich im wogenden Kerzenlicht zu bewegen. Sie verschieben und verändern sich vor deinen Augen.
    Bevor du gehst, erinnert dich die Wahrsagerin daran, dass die Zukunft nie in Stein gemeißelt ist.

Blaupausen
    LONDON, DEZEMBER 1902
    P oppet Murray steht auf der Treppe zum Lefèvre’schen Haus, mit einer ledernen Aktenmappe in der Hand und einer großen Schultertasche zu ihren Füßen. Sie läutet mehrmals und klopft auch ein paarmal laut an die Tür, obwohl sie die Glocke im Haus widerhallen hört.
    Als die Tür endlich geöffnet wird, steht Chandresh höchstpersönlich dahinter, sein violettes Hemd hängt über der Hose, und er hält ein zerknittertes Stück Papier in der Hand.
    »Beim letzten Mal warst du kleiner«, sagt er und mustert Poppet von den Stiefeln bis zum hochgesteckten roten Haar. »Und ihr wart zu zweit.«
    »Mein Bruder ist in Frankreich«, sagt Poppet, nimmt die Schultertasche und folgt Chandresh ins Haus.
    Die goldene Statue mit dem Elefantenkopf in der Eingangshalle müsste dringend poliert werden. Das Haus ist in unordentlichem Zustand, zumindest soweit ein Haus, das von oben bis unten mit Antiquitäten und Büchern und Kunstobjekten vollgestopft ist, unordentlich sein kann, auf eine ganz eigene, gemütliche und überladene Art. Es hat nicht mehr den Glanz von damals, als sie mit Widget vor nunmehr ziemlich vielen Jahren durch die Gänge rannte und orangefarbene Kätzchen durch bunt gekleidete Gäste jagte.
    »Wo ist das ganze Personal?«, fragt Poppet, als sie die Treppe hochsteigen.
    »Ich habe sie alle entlassen«, sagt Chandresh.
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