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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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Säulen aus gerundeten Bücherregalen. Zusammen sitzen sie auf dem Boden und verbinden Räume, Gänge und Treppen.
    Chandresh will schon nach Marco rufen, fängt sich aber eben noch rechtzeitig.
    »Ich vergesse immer, dass er nicht mehr da ist«, sagt er zu Poppet. »Eines Tages ist er weggegangen und nicht mehr wiedergekommen. Nicht mal einen Brief hat er hinterlassen. Man sollte meinen, dass jemand, der ständig Briefe schreibt, wenigstens eine kurze Nachricht hinterlässt.«
    »Ich glaube, seine Abreise war nicht geplant«, sagt Poppet. »Und er bedauert sehr, dass er seine Aufgaben hier nicht richtig abschließen konnte, das weiß ich.«
    »Weißt du, warum er weggegangen ist?«, fragt Chandresh und sieht zu ihr hoch.
    »Er wollte bei Celia Bowen sein«, sagt Poppet und muss unwillkürlich lächeln.
    »Ha!«, ruft Chandresh aus. »Ich hätte nicht gedacht, dass er den Mumm dazu hat. Schön für sie. Darauf stoßen wir an.«
    »Anstoßen?«
    »Du hast recht, wir haben keinen Champagner«, sagt Chandresh und schiebt einen Haufen leerer Brandyflaschen beiseite, um eine weitere Reihe von Skizzen auf dem Boden auszubreiten. »Wir widmen ihnen einen Raum. Was meinst du, welcher würde ihnen wohl gefallen?«
    Poppet betrachtet die Blaupausen und Skizzen. Es gibt mehrere, die ihrer Ansicht nach einem oder beiden gefallen könnten. Sie bleibt vor der Zeichnung eines runden, fensterlosen Raums stehen, der nur durch einen gläsernen Zierkarpfenteich in der Decke erhellt wird. Heiter und bezaubernd.
    »Der da«, sagt sie.
    Chandresh nimmt einen Bleistift und schreibt »M. Alisdair und C. Bowen widmen« an den Rand des Papiers.
    »Ich könnte dir helfen, einen neuen Assistenten zu finden«, bietet Poppet an. »Ich kann eine Weile in London bleiben.«
    »Das würde mich freuen, meine Liebe.«
    Die große Tasche, die Poppet in der Nähe auf dem Boden abgestellt hat, fällt mit einem leisen Plumps um.
    »Was ist da drin?«, fragt Chandresh und beäugt sie leicht beklommen.
    »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sagt Poppet strahlend.
    Sie stellt die Tasche wieder hin, öffnet sie vorsichtig und holt eine kleine schwarze Katze mit weißen Flecken an Beinen und Schwanz heraus. Sie sieht aus, als wäre sie in Sahne getaucht worden.
    »Sie heißt Ara«, sagt Poppet. »Sie kommt, wenn man sie ruft, und sie kann ein paar Tricks, aber vor allem mag sie Aufmerksamkeit und sitzt gern auf Fensterbrettern. Ich dachte, ein bisschen Gesellschaft könnte dir gefallen.«
    Behutsam setzt sie die kleine Katze auf den Boden und hält die Hand über sie. Leise miauend stellt die Katze sich auf die Hinterbeine und leckt Poppet die Finger, dann wendet sie ihre Aufmerksamkeit Chandresh zu.
    »Hallo, Ara«, sagt er.
    »Ich werde dir dein Gedächtnis nicht zurückgeben«, sagt Poppet und sieht zu, wie die kleine Katze auf Chandreshs Schoß klettern will. »Ich weiß auch gar nicht, ob es mir gelingen würde. Widget könnte es vermutlich schaffen. Aber im Augenblick solltest du dich damit nicht belasten. Ich glaube, es ist besser, nach vorne zu schauen als zurückzublicken.«
    »Wovon redest du eigentlich?«, fragt Chandresh, hebt die kleine Katze hoch und krault sie hinter den Ohren, worauf sie zu schnurren beginnt.
    »Ach nichts«, sagt Poppet. »Danke, Chandresh.«
    Sie beugt sich vor und küsst ihn auf die Wange.
    Sobald ihre Lippen seine Haut berühren, geht es Chandresh so gut wie seit Jahren nicht mehr, als hätte sich ein letzter Rest Nebel von ihm gehoben. Er sieht klar, die Pläne für das Museum nehmen Gestalt an, und Ideen für künftige Projekte fügen sich zu problemlos durchführbaren Aufgaben.
    Chandresh und Poppet verbringen Stunden mit dem Ordnen und Erweitern der Pläne und schaffen einen neuen Ort für Antiquitäten, Kunstwerke und Zukunftsvisionen.
    Die kleine schwarzweiße Katze spielt unterdessen mit den Papierknäueln.

Geschichten
    PARIS, JANUAR 1903
    D ie Geschichten haben sich verändert, mein lieber Junge«, sagt der Mann im grauen Anzug mit einem Hauch von Traurigkeit in der Stimme. »Es gibt keine Schlachten mehr zwischen Gut und Böse, keine zu erlegenden Ungeheuer, keine in Bedrängnis geratenen Jungfrauen. Nach meinen Erfahrungen können sich die meisten Jungfrauen durchaus selbst retten, zumindest die, die etwas taugen. Es gibt keine schlichten Erzählungen mehr von abenteuerlichen Suchen, Untieren und glücklichem Ende. Den Suchen fehlt es an klar erkennbaren Zielen und Wegen. Die Untiere nehmen unterschiedliche
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