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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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sondern Methoden, mit denen man mehr Zugang zum Universum gewinnt. Leider nehmen sich heutzutage nur sehr wenige Menschen die Zeit, sie zu lernen, und noch weniger haben eine natürliche Begabung dafür. Du und deine Schwester, ihr habt sie, wie sich überraschenderweise nach der Eröffnung eures Zirkus herausgestellt hat. Was macht ihr aus eurem Talent? Welchem Zweck dient es?«
    Widget überlegt kurz. Außerhalb des Zirkus scheint es wenig Platz für solche Dinge zu geben, aber vielleicht will der Mann gerade darauf hinaus. »Ich erzähle Geschichten«, sagt er. Diese Antwort trifft es für sein Gefühl am besten.
    »Du erzählst Geschichten?«, fragt der Mann, und sein Interesse ist nahezu mit Händen zu greifen.
    »Geschichten, Märchen, Balladen«, sagt Widget. »Wie immer man sie nennt. Das, worüber wir vorhin gesprochen haben und das heute komplizierter ist als früher. Ich nehme Szenen aus der Vergangenheit und mache Erzählungen daraus. Aber das ist nicht so wichtig, deswegen bin ich auch nicht hier –«
    »Das ist wichtig«, fällt ihm der Mann im grauen Anzug ins Wort. »Jemand muss solche Geschichten erzählen. Wenn die Schlachten geschlagen und gewonnen oder verloren sind, wenn die Piraten den Schatz gefunden und die Drachen ihre Feinde bei einer guten Tasse Lapsang Souchong zum Frühstück verspeist haben, muss jemand aus dem Stückwerk eine Geschichte machen. Darin liegt Magie. Sie liegt im Zuhörer, und auf jedes Ohr wirkt sie anders, jeden berührt sie auf eine Weise, die nicht vorhersagbar ist. Vom Banalen bis zum Tiefgründigen. Vielleicht findet eine deiner Geschichten Eingang in die Seele von anderen, wird ein Teil von ihnen, gibt ihrem Leben Sinn. Eine Geschichte, die sie berührt und zu wer weiß was bewegt. Das ist deine Rolle, deine Gabe. Deine Schwester mag die Zukunft sehen, aber du, mein Junge, kannst sie gestalten. Vergiss das nicht.« Er trinkt noch einen Schluck Wein. »Schließlich gibt es viele Arten von Magie.«
    Widget fällt auf, dass der Mann im grauen Anzug ihn jetzt anders betrachtet. Er fragt sich, ob all die großartigen Worte von vorhin, dass Geschichten nicht mehr das sind, was sie einmal waren, bloßes Gerede waren und der Mann gar nicht wirklich daran glaubt.
    Während sein Interesse zuvor an Gleichgültigkeit grenzte, mustert er Widget jetzt, wie ein Kind ein neues Spielzeug bestaunen oder ein Wolf ein besonders reizvolles Beutestück begutachten würde, sei es rot gekleidet oder anders.
    »Sie wollen mich ablenken«, sagt Widget.
    Der Mann im grauen Anzug nippt nur an seinem Wein und sieht Widget über den Glasrand an.
    »Ist das Spiel denn zu Ende?«, fragt Widget.
    »Ja und nein.« Der Mann stellt das Glas ab. »Genau genommen ist es in ein unerwartetes Schlupfloch gefallen. Es ist nicht ordnungsgemäß beendet worden.«
    »Und was wird mit dem Zirkus?«
    »Ich nehme an, deshalb wolltest du mit mir sprechen?«
    Widget nickt. »Bailey hat die Position Ihrer Spieler übernommen. Meine Schwester hat die geschäftlichen Angelegenheiten mit Chandresh geregelt. Auf dem Papier sind wir bereits die Besitzer und Betreiber des Zirkus. Ich habe mich bereit erklärt, den Rest der Formalitäten zu übernehmen.«
    »Ich bin kein Freund von halben Sachen, aber ich fürchte, so einfach ist das nicht.«
    »Das wollte ich damit auch nicht sagen«, erwidert Widget.
    Ein paar Tische weiter erhebt sich lautes Gelächter und hallt durch den Raum, bevor es wieder abebbt und im leisen, stetigen Stimmengemurmel und Gläserklirren untergeht.
    »Du hast keine Ahnung, worauf du dich da einlässt, mein Junge«, sagt der Mann im grauen Anzug ruhig. »Was für ein heikles Unternehmen das Ganze ist. Wie ungewiss die Folgen sind. Was wäre euer Bailey, wenn ihr ihn nicht so offen in eurem Zirkus aufgenommen hättet? Nichts als ein Träumer, der sich nach etwas sehnt, das er gar nicht versteht.«
    »Ein Träumer zu sein ist doch nichts Schlimmes.«
    »Das stimmt. Aber manchmal werden Träume zu Alpträumen. Ich glaube, Monsieur Lefèvre könnte dazu einiges sagen. Du wärst besser beraten, das ganze Unternehmen zum Mythos verblassen und in Vergessenheit geraten zu lassen. Irgendwann fällt jedes Reich. Das ist der Lauf der Dinge. Vielleicht ist es Zeit, diesem hier seinen Lauf zu lassen.«
    »Ich fürchte, dazu bin ich nicht bereit«, sagt Widget.
    »Du bist noch sehr jung.«
    »Bailey, meine Schwester und ich sind allerdings, wie Sie sagen, verhältnismäßig jung, doch davon abgesehen würde ich
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