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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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Formen an und sind kaum mehr als solche zu erkennen. Und fast nie gibt es ein richtiges Ende, ob glücklich oder anders. Die Dinge gehen einfach weiter, sie mischen sich und verschwimmen, deine Geschichte ist ein Teil der Geschichte deiner Schwester, die wiederum ein Teil vieler anderer Geschichten ist, und man kann nicht sagen, wo sie alle hinführen. Gut und Böse sind weitaus komplizierter als eine Prinzessin oder ein Drache, oder ein Wolf und ein rot gekleidetes Mädchen. Und ist nicht der Drache der eigentliche Held seiner Geschichte? Verhält sich der Wolf nicht schlicht wie ein Wolf? Auch wenn es vielleicht einmalig ist, wenn ein Wolf sich als Großmutter verkleidet, um mit seiner Beute zu spielen.«
    Widget nippt an seinem Glas Wein und überdenkt das Gehörte.
    »Aber würde das nicht heißen, dass es im Grunde nie schlichte Erzählungen gegeben hat?«, fragt er.
    Der Mann im grauen Anzug zuckt die Schultern, nimmt die Weinflasche vom Tisch und schenkt sich nach.
    »Das ist eine komplizierte Angelegenheit. Das Herzstück der jeweiligen Erzählung und die Idee dahinter sind einfach. Mit der Zeit verändert und verdichtet sie sich in ihren Feinheiten, bis sie mehr ist als eine Geschichte und größer als die Summe ihrer Teile. Doch das braucht Zeit. Die wahrsten Geschichten brauchen Zeit und Gewöhnung, um zu dem zu werden, was sie sind.«
    Die Bedienung kommt an den Tisch und unterhält sich kurz mit Widget, ohne den Mann im grauen Anzug zu beachten.
    »Wie viele Sprachen sprichst du?«, fragt der Mann, sobald die Bedienung weg ist.
    »Ich habe mir nie die Mühe gemacht, sie zu zählen«, antwortet Widget. »Wenn ich ordentlich hinhöre und die Grundlage begreife, kann ich praktisch jede Sprache.«
    »Beeindruckend.«
    »Ich habe das eine oder andere ganz von selbst aufgeschnappt, und Celia hat mir beigebracht, Muster zu erkennen und die einzelnen Laute zu Wörtern und Sätzen zu verbinden.«
    »Ich hoffe, sie war eine bessere Lehrerin als ihr Vater.«
    »Soweit ich weiß, sind sie ziemlich verschieden. Außerdem hat sie Poppet und mich nie zu riskanten Spielen gezwungen.«
    »Kennst du überhaupt die Herausforderung, auf die du gerade anspielst?«, fragt der Mann im grauen Anzug.
    »Sie etwa?«, fragt Widget. »Mir scheint, sie war nie ganz eindeutig.«
    »Nur wenige Dinge in dieser Welt sind eindeutig. Es ist schon lange her – man könnte auch sagen, es war einmal , wenn man die Erzählung märchenhafter machen möchte, als sie ist –, da hatten einer meiner ersten Schüler und ich eine Meinungsverschiedenheit über die Beschaffenheit der Welt, über Beständigkeit, Durchhaltevermögen und Zeit. Er hielt meine Methoden für überholt und entwickelte eigene, die er besser fand. Ich vertrete die Ansicht, dass keine Methodik etwas taugt, wenn sie nicht gelehrt werden kann, und so fing er an zu unterrichten. Dass wir unsere jeweiligen Schüler gegeneinander ausspielten, begann mit schlichten Tests, deren Herausforderungen im Laufe der Zeit immer komplizierter wurden. Im Grunde ging es stets um Chaos und Kontrolle und die Frage, welche Methode sich durchsetzt. Es ist eine Sache, zwei Kontrahenten auf sich gestellt in den Kampf zu schicken und zu warten, bis einer am Boden liegt. Aber es ist eine ganz andere, zu beobachten, wie sie sich schlagen, wenn neben ihnen noch andere Faktoren an dem Kampf beteiligt sind. Wenn jede Handlung Nachwirkungen hat. Diese letzte Herausforderung war besonders interessant. Ich gebe zu, dass Miss Bowen einen sehr klugen Ausweg gefunden hat. Auch wenn ich sehr bedaure, dass ich dadurch einen meiner Schüler verliere.« Er trinkt einen Schluck Wein. »Er war vermutlich der beste, den ich je hatte.«
    »Sie glauben, er ist tot?«, fragt Widget.
    Der Mann stellt sein Glas ab.
    »Du etwa nicht?«, kontert er nach einer beträchtlichen Pause.
    »Ich weiß, dass er es nicht ist. Genauso wie ich weiß, dass Celias Vater, der ebenfalls nicht tot ist, dort am Fenster steht.« Widget hebt sein Glas und neigt es in Richtung des dunklen Fensters neben der Tür.
    Das Bild in der Scheibe, das ein grauhaariger Mann im maßgeschneiderten Mantel sein könnte oder vermischte Spiegelbilder von Gästen und Kellnern und gebrochenem Licht von der Straße, kräuselt sich leicht, bevor es vollkommen unklar wird.
    »Sie sind beide nicht tot«, fährt Widget fort. »Aber sie sind auch nicht so.« Er nickt zum Fenster. »Sie sind im Zirkus. Sie sind der Zirkus. Man kann seine Schritte im Labyrinth hören.
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