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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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Manteltasche und wirft es ihm zu.
    Es ist schwerer als erwartet, mit einem komplizierten Mechanismus aus Rädchen, teilweise ummantelt von einer abgewetzten, matten Silberfläche, in die Symbole eingeätzt sind, die er nicht erkennt.
    »Sei vorsichtig damit«, sagt Tsukiko.
    »Hat es Zauberkräfte?«, fragt Bailey und begutachtet es.
    »Nein, aber es ist alt und wurde von jemandem gemacht, der mir sehr teuer war. Ich nehme an, du hast vor, es wieder anzuzünden?« Sie zeigt auf den gewaltigen Kessel aus verschnörkeltem Metall, in dem einst das Feuer war.
    Bailey nickt.
    »Brauchst du Hilfe?«
    »Ist das ein Angebot?«
    Tsukiko zuckt die Schultern.
    »Mir liegt nicht besonders viel am Ergebnis«, sagt sie, doch etwas an der Art, wie sie die Zelte und den Matsch ringsum betrachtet, lässt Bailey an ihren Worten zweifeln.
    »Das glaube ich Ihnen nicht«, sagt er. »Aber mir liegt viel daran, und ich finde, ich sollte das allein machen.«
    Tsukiko lächelt ihm zu, und es ist das erste Lächeln, das seiner Ansicht nach aufrichtig wirkt.
    »Dann lass ich dich jetzt mal allein.« Tsukiko fährt mit der Hand am Eisenkessel entlang, und ein Großteil des Regenwassers darin wird zu Dampf, der in einer zarten Wolke emporsteigt und sich im Nebel auflöst.
    Ohne weitere Ratschläge oder Anweisungen entfernt sie sich auf einem schwarzweiß gestreiften Weg, einen dünnen Rauchkringel hinter sich herziehend, und lässt Bailey allein auf dem Platz zurück.
    Er erinnert sich an die Geschichte vom Entzünden des Feuers, die Widget ihm erzählt hat, die Feuerzeremonie. Allerdings wird ihm erst jetzt klar, dass dies auch die Nacht war, in der Widget geboren wurde. Er hat die Geschichte damals so ausführlich erzählt, dass Bailey das Gefühl hatte, er sei selbst dabei gewesen. Die Bogenschützen, die Farben, das Spektakel.
    Und jetzt steht Bailey da und versucht dasselbe Kunststück mit nur einem Buch, etwas Garn und einem geborgten Feuerzeug zu vollbringen. Allein. Im Regen.
    Er wiederholt leise, was er noch von Celias Anweisungen weiß, die komplizierter sind, als Bücher zu finden und Fäden zu verknoten. Anweisungen über Konzentration und Absicht, die er nicht ganz versteht.
    Er umwickelt das Buch mit einem feinen, tiefrot gefärbten Wollfaden, der stellenweise dunklere Flecken aufweist, wie von etwas Trockenem, Braunem.
    Die lose Seite auf dem Buchdeckel und die Karten im Inneren sicher verwahrt, knotet er das Buch mit dem Faden dreimal zu.
    Zum Schluss schlingt er die Kette mit der Taschenuhr so gut es geht drum herum und wirft das Buch in den leeren Kessel, wo es mit einem dumpfen Schlag landet und die Uhr gegen das Metall scheppert.
    Marcos Bowlerhut liegt im Matsch zu seinen Füßen. Er wirft ihn ebenfalls hinein.
    Er dreht sich kurz zum Akrobatenzelt um und sieht die Spitze hoch über die umliegenden Zelte aufragen.
    Und dann holt er spontan den restlichen Inhalt aus seinen Taschen und wirft ihn zu der Sammlung in den Kessel. Seine silberfarbene Eintrittskarte. Die getrocknete Rose, die er beim Abendessen mit den rêveurs am Revers getragen hat. Poppets weißen Handschuh.
    Bei Widgets kleinem Glasfläschchen mit dem Baum zögert er kurz, fügt es dann aber ebenfalls hinzu und zuckt zusammen, als es gegen das Eisen kracht.
    Er nimmt die weiße Kerze in eine Hand und Tsukikos Feuerzeug in die andere.
    Es dauert eine Weile, bis das Feuerzeug Funken schlägt.
    Dann zündet er die Kerze mit der hellen orangefarbenen Flamme an.
    Er wirft die brennende Kerze in den Kessel.
    Nichts passiert.
    Ich entscheide mich dafür , denkt Bailey. Ich will es. Ich brauche es. Bitte. Bitte lass es funktionieren.
    Er wünscht es sich mehr als alles, was er sich jemals bei Geburtstagskerzen oder Sternschnuppen gewünscht hat. Er wünscht es sich für sich selbst. Für die rêveurs in ihren roten Schals. Für einen Uhrmacher, den er nie kannte. Für Celia und Marco und Poppet und Widget, und sogar für Tsukiko, auch wenn sie behauptet, es sei ihr egal.
    Bailey schließt die Augen.
    Einen Augenblick lang ist alles still. Selbst der leichte Regen hört plötzlich auf.
    Er spürt, wie sich zwei Hände auf seine Schultern legen.
    Eine Schwere in der Brust.
    Etwas in dem verschnörkelten Eisenkessel fängt an, Funken zu sprühen.
    Als die Flammen zünden, sind sie hell und purpurrot.
    Als sie weiß werden, blenden sie, und die Funken regnen wie Sterne herab.
    Die Kraft des Feuers zwingt Bailey zurück und durchfährt ihn wie eine Welle, die Luft brennt
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