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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache
Autoren: John Niven
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Prolog
    Coldwater, Florida, Gegenwart
    Es ist warm hier in Coldwater.
    Wenn man, wie die meisten von uns Schotten, Schottland und England als eigenständige Nationen betrachtet, habe ich bisher in vier verschiedenen Ländern gelebt. Aber hier ist es zum ersten Mal warm. Die Wärme soll gut sein für das, was von meinem Bein noch übrig ist.
    Florida ist eine einzige lange Einkaufsmeile: endlose Straßen, gesäumt von riesigen Parkplätzen, gerahmt von Schnellrestaurants und Drogerien, die mit ihren Gängen voller Zahnbürsten, Wänden aus Shampoo-Flaschen und unzähligen Mundwassersorten größer sind als selbst die größten Supermärkte an den Orten meiner Kindheit. Alle hundert Meter grinst ein Colonel Sanders oder Ronald McDonald auf einen herab. Nicht gerade der Ort, den ich mir einst zum Leben erträumt habe. Aber als ich vor etwas über einem Jahr hier ankam, war mir das ziemlich egal.
    Meine Psychologin Dr. Tan ist der Meinung, es würde mir vielleicht ganz guttun, alles niederzuschreiben – jetzt, wo sich das Ganze bald zum zweiten Mal jährt. Ich müsste es ja niemandem zeigen, sondern nur zu Papier bringen.
    Sie hofft, es würde mir dabei helfen, »bestimmte Abschnitte« zu rekonstruieren, an denen ich bei unseren Sitzungen arbeiten wollte. »Immerhin«, sagte sie, »waren Sie ja mal Autor, nicht wahr?« Dieser Satz rang mir ein schiefes Lächeln ab.
    Ich sitze am Schreibtisch des kleinen Büros, das ich mir im Erdgeschoss eingerichtet habe. Eigentlich komme ich nur zum Lesen hierher. Das Haus ist im Kolonialstil gehalten. Es ist lichtdurchflutet und geräumig, die Möbel sind überwiegend aus hellem Eichenholz. Aus meinem Fenster blicke ich in den üppigen Garten und auf den kleinen, ovalen Pool. Ich kann die Azaleen und das Meer riechen. Cora, die Haushälterin, kommt jeden Tag, um zu kochen und aufzuräumen. Sie ist schwarz, klein, drahtig und immer gut gelaunt.
    Ich schreibe mit einem Füllfederhalter, da meine rechte Hand beim Tippen immer noch zu sehr schmerzt. Sie ist von einer monströsen Narbe entstellt, die rot wird, wenn ich eine Faust balle, und sich langsam weiß färbt, wenn ich sie wieder öffne. Ich bin erst dreiundvierzig, fühle mich aber so alt, wie ich aussehe. Als hätte ich tatsächlich zwei Leben gleichzeitig geführt. Mein Haar ist an den Schläfen von grauen Strähnen durchzogen. Meine Tränensäcke verkünden meinen Schlafmangel so anschaulich, dass ich es fast als Kompliment begreife, wenn wieder mal ein Taxifahrer sagt, ich sähe müde aus. Aufgrund der mangelnden Bewegung habe ich in den letzten zwei Jahren an Bauch und Hüfte kräftig zugelegt. Als ich mich neulich in der Badewanne nach dem Wasserhahn streckte, war ich von der Anstrengung ganz kurzatmig.
    Dr. Tan sagte zwar, ich bräuchte es niemandem zu zeigen, aber für irgendwen muss ich es doch schreiben. Man schreibt immer für irgendwen. Für wen schreibe ich also? Wer ist mein idealer Leser ? Walt? Sammy? Craig Docherty vielleicht? Seltsamerweise habe ich das Gefühl, es ist für sie . Für Gill. Weil ich es ihr schulde. Doch wo fange ich an? Was war das auslösende Ereignis ? (Voller Wehmut erinnere ich mich an die Leitfäden zum Drehbuchschreiben – Raymond G. Frensham, Syd Field, Denny Flinn – und die Widmungen darin: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Donnie. In Liebe, S xXx PS: Du schaffst das!« Relikte aus besseren Tagen.) Vermutlich wäre Schottland ein guter Ausgangspunkt. Aber den ganz großen Schritt, all diese Jahre zurückzublicken, wage ich momentan einfach noch nicht. Besser, ich fange mit jenen Ereignissen an, die zu dieser Nacht führten. Was dann wohl hieße, mit dem Hund zu beginnen.
    Genau. Beginnen wir mit dem Hund.

1
    Saskatchewan, Kanada, zwei Jahre zuvor
    »Daddy, ich kann Herby nicht finden.«
    Mit einer dampfenden Kaffeetasse stand ich auf der Terrasse vor unserem Haus. Ich steckte das Handy zurück in die Tasche und drehte mich nach Walt um, der seine Augen mit erhobener Hand gegen die vom Schnee reflektierte, gleißende Sonne schützte. Er trug seine mit Pelz abgesetzte, beigefarbene Daunenjacke. Auf seinem blauen Ralph-Lauren-Schal leuchtete ein kleiner, gestickter Teddybär. Seine Handschuhe baumelten von seinen Ärmeln wie Gehängte – Geisterfäustchen, im Novemberwind pendelnde Wiedergänger seiner kleinen Hände. Walts dichter teefarbener Pony fiel ihm in die Augen. Mein Sohn, der bald neun Jahre alt werden sollte, hat Gott sei Dank das Haar seiner Mutter geerbt, fein und
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