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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache
Autoren: John Niven
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den dunklen Raum dahinter hat man schneller betreten, als man glaubt. Man spielt seine Reaktion durch, und noch ehe man sich versieht, wägt man Messer gegen Pistole und Baseballschläger ab. Aber wem bietet sich schon die Möglichkeit, solche Überlegungen in die Tat umzusetzen? Hier auf dem Sofa oder unter den Palmen am Pool, einen starken Drink in der Hand und die Fantasie mit etwas Valium geschmiert, bin ich in meinen Büchern schon einigen dieser Menschen begegnet. Zum Beispiel dem deutschen Vater, dessen Söhne von russischen Truppen ermordet und dessen Töchter von ihnen vergewaltigt wurden, russischen Truppen, die schon bald selbst überrannt und in Gefangenschaft geraten waren. Ein Wehrmacht-Offizier hatte ihm in der Scheune ein wenig Zeit mit zweien der Täter gewährt. Die angebotene Pistole hatte er abgelehnt und die Männer stattdessen mit Scheren und Stuhlbeinen bearbeitet. Anders als der muslimische Vater, der um Gnade für die betrunkenen Männer bat, die seinen Sohn mit einem gestohlenen Auto überfahren hatten. Die persönlichen Reaktionen auf Gewalttaten sind so unterschiedlich wie die menschlichen Überzeugungen selbst.
    Da ist dieses Zitat von George Orwell, das ich mir auf einem der gelben Zettel notiert habe, die immer auf meinem Schreibtisch bereitliegen:
    »Genau genommen gibt es etwas wie Rache nicht. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist: Sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.«
    Das Zitat stammt aus dem Jahr 1945. Orwell war im von den Alliierten besetzten Europa Zeuge der Grausamkeiten gewesen, die an deutschen Kriegsgefangenen verübt wurden. Und trotz meiner eigenen Erfahrungen glaube ich, dass er im Großen und Ganzen recht hat. Die meisten Menschen würden sich abwenden, wenn man ihnen die Gelegenheit böte, jemanden aus reiner Vergeltung zu misshandeln oder zu foltern. Für die meisten von uns hat Rache keine lange Halbwertszeit.
    Aber das gilt nicht für jeden.
    Manche Menschen können dieses Gefühl über Jahre in ihrem Innern am Leben erhalten. Sie werden Äther auf ein Tuch kippen und geradewegs auf dich zugehen. Sie werden ihr Messer am Pistolenlauf wetzen, wenn sie im Dunkel nach dir suchen. Und wenn du dann um Hilfe rufst, nach deiner Mutter oder deinem Gott, wird dich niemand hören.
    Ich erinnere mich an den Tag vor mehr als zwanzig Jahren, als Mr. Cardew mir die Taschenbuchausgabe der gesammelten Werke von Shakespeare gab. Es war der Tag, an dem ich das Abitur mit exakt dem Notenschnitt bestanden hatte, den ich brauchte, um in Lampeter studieren zu können. Ich war jetzt seit über einem Jahr Donnie, und keiner von uns beiden verhaspelte sich noch mit den Namen. William war tot. Wir hatten darüber gesprochen, was mich an der Universität erwarten würde, über das Übergangshaus, in dem ich für den Rest des Sommers leben würde, um mich zu akklimatisieren, bevor das Semester begann und ich ein Zimmer im Studentenwohnheim bezog. Er versprach mir, mich zu besuchen. »Sieh zu, dass du dich auf diesen Erstsemesterpartys nicht besinnungslos trinkst«, sagte er und lächelte, als er mir zum Abschied die Hand reichte. Ich schüttelte sie, dort in diesem traurigen Raum, wo in den letzten sieben Jahren so viel geschehen war, wo Wilfred Owens Gewehre gestottert hatten, wo der Wald von Birnam nach Dunsinane marschiert und Ted Hughes’ Jaguar herumgestrichen war. Er ließ das Buch auf dem Tisch liegen, und nachdem er gegangen war, las ich die Widmung. »Nun geh und mach dich selbst stolz.«
    Doch dafür hätte ich ihm die Wahrheit sagen müssen. Die Wahrheit, die er letztendlich nie erfahren hatte. Ich hätte ihm in die Augen sehen und es aussprechen müssen: Ich war es. Ich habe es getan. Doch das habe ich nur einem einzigen Menschen gegenüber jemals zugegeben. Immerhin hatte Gill Docherty die Wahrheit mehr als jeder andere verdient. Was mir für eine gewisse Zeit so etwas wie Frieden schenkte.
    Am Ende des Flurs kann ich Cora in der Küche mit den Töpfen klappern hören. Der Duft eines würzigen Eintopfs steigt mir in die Nase. Schon bald wird es sechs Uhr sein, dann kann ich mir einen Drink genehmigen. Nach der ganzen Geschichte hatte ich zunächst bereits tagsüber mit dem Trinken angefangen. Peu à peu gelang es mir dann, den Zeitpunkt für das erste Glas auf sechs Uhr hinauszuzögern. Es kam mir vertraut vor, als ich in einem Interview mit J. G. Ballard las, dass er anfangs
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