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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache
Autoren: John Niven
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wurde.
    »Land des lebendigen Himmels« steht in Saskatchewan auf den Nummernschildern. Mir schien der Himmel weniger lebendig als endlos zu sein. Unter ihm fühlte ich mich winzig und irrelevant, wie Plankton, wie Krill in diesem abgrundtiefen Atlantischen Ozean, der mich nun von zu Hause trennte. In den ersten Jahren, bevor ich schließlich Sammy kennenlernte, fuhr ich im Sommer manchmal in meinem alten Nissan aus Regina raus und über Land nach Norden in Richtung Saskatoon. Dort hielt ich irgendwo am Straßenrand, parkte auf dem staubigen Seitenstreifen und legte mich auf die Motorhaube in den lauen Chinook-Wind. Umgeben von Weizenfeldern oder Viehweiden blickte ich zu den vorbeiziehenden Wolken hinauf und folgte ihnen in Gedanken weiter nordwärts, wo die Felder, das Vieh und der Chinook-Wind allmählich verschwanden und der leeren Weite der Northwest Territories wichen. Dahinter Grönland. Die Arktis. Lemminge, Moschusochsen und Karibus. Der Nordpol. Permafrost. Einsamkeit.
    Ich lag einfach nur da – die Wölbung der Motorhaube im Rücken, die Wärme des Blechs unter meinem Hemd – und blickte nach Norden.
    Später erzählte mir Sammy von den Inuit, den furchterregenden Stämmen jener Krieger und Jäger, deren Heimat die Tundra war. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sie dort ein Leben unbehelligt von der Zivilisation geführt. Dann tauchten wir auf und brachten ihnen das, was wir immer bringen: Alkohol, Drogen und Fernsehen. Heute leben die meisten der verbliebenen Inuit in Grönlands Hauptstadt Nuuk. Sie hausen in Sozialbauten, und die einzigen Kämpfe, die ihre Krieger jetzt noch führen, gelten ihren Depressionen, ihrem Alkoholismus und ihrer Drogenabhängigkeit.
    Laut Sammy glaubten die Inuit einst, Selbstmord würde die Seele reinigen und sie auf ihre Reise ins Jenseits vorbereiten. Die Alten, die für den Stamm zur Belastung geworden waren, baten deshalb häufig darum, sich das Leben nehmen zu dürfen. Sie mussten dreimal fragen, und die Familienmitglieder konnten versuchen, sie davon abzubringen. Doch wenn sie das dritte Mal fragten, durfte ihrer Bitte nicht mehr widersprochen werden. Sie drehten ihre Kleidung auf links, schafften ihre Besitztümer herbei, damit sie zerstört wurden, und erhängten sich vor aller Augen. Ich habe oft versucht, mir diese dritte Konversation vorzustellen. Den Gesichtsausdruck eines Menschen, wenn dessen Mutter oder Vater mit solch einer Bitte an ihn herantritt. Wie er zuhört, mit geneigtem Kopf, in dem Bewusstsein, nun einwilligen zu müssen.
    Ich bemerkte, dass Walt an meiner Hand zog, offenbar in Erwartung einer Antwort. »Was ist denn, Walt?«
    »Dad, ich hab dich gefragt, ob du schreiben wirst, dass der Film gut war …«
    Walt hatte gerade erst begonnen, mit »Dad« zu experimentieren. Ich war erschüttert, wie sehr ich mich herabgesetzt fühlte, wenn er mich so nannte. Wie erwachsen ihn diese drei Buchstaben machten und wie alt sie mich erscheinen ließen. Welchen Verlust an Unschuld sie darstellten. Ich vermisste »Daddy«. Seine Mutter war für ihn immer noch »Mommy«.
    »Ja, ich glaube schon.«
    »Hat er dir wirklich gefallen?« Walt sprach von dem Film, den wir uns am Abend zuvor auf DVD angesehen hatten und den ich für die Zeitung besprechen sollte: eine 100-Millionen-Dollar teure Aneinanderreihung von Kampfszenen, Unglaubwürdigkeiten und hölzernen Dialogen. Er war begeistert davon, bis auf die letzte Schlacht, die er offensichtlich als ein wenig traumatisch empfand.
    »Nein, Walt, nicht wirklich.«
    Ich dachte über den Film nach, über seinen widerwärtig grellen Farb-Overkill, darüber, wie er jeden Zentimeter der Leinwand bis zum Bersten ausfüllte. Über das grausame, schablonenhafte Spiel der Darsteller, die dumpfe Rahmenhandlung. »Also«, sagte ich, »ich schätze, ich mochte die Charaktere nicht besonders.« Ich erinnere mich, dass ich den Arm um Walt legte, um ihn ein paar vereiste Stufen hinaufzuführen. Da ist es dir zum ersten Mal aufgefallen. Aus dem Augenwinkel. Der farbige Klecks. Die Vögel.
    »Aber«, sagte Walt und sah mich immer noch fragend an, »warum willst du dann schreiben, dass er gut ist?«
    »Na ja …« Wie erklärt man einem Achtjährigen die Lügen und Kompromisse der Erwachsenenwelt? Der Regina Advertiser , die Zeitung, für die ich schrieb und die seine Mutter herausgab, ist im Grunde ein beschissenes Anzeigen- und Lokalnachrichtenblatt. Die Artikel der Zeitung haben starken Regionalbezug, es sind Storys über
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