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Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising

Titel: Nachtstürme - Peeler, N: Nachtstürme - Tempest Rising
Autoren: Nicole Peeler
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KAPITEL 1

    I ch warf einen prüfenden Blick in den Gefrierschrank und überlegte, was ich heute zum Abendessen machen könnte. Das war gar nicht so einfach, denn ein Außenstehender konnte leicht den Eindruck gewinnen, dass »Amerikas beste Hausfrau« Martha Stewart nicht nur bei uns wohnt, sondern sich hier auf den Weltuntergang vorbereitet. Tiefgefrorene Lasagne, Eintopf, Pastete und dergleichen mehr füllte unseren Eisschrank bis zum Rand. Schließlich entschied ich mich für Fischsuppe und nahm einen Schellfisch und Muscheln heraus. Nach einem kurzen inneren Kampf, den der vernünftige Teil von mir haushoch verlor, griff ich auch noch nach einem großen Lachs, um etwas mehr Suppe zum - man ahnt es schon - Einfrieren zu machen. Ja, das Horten von vorgekochten Gerichten war bei mir mehr als nur eine kleine Zwangsneurose, aber es gab mir eben ein gutes Gefühl. Außerdem bedeutete es, dass ich meinen Vater, falls ich einmal später nach Hause kam, ohne größere Schuldgefühle sich selbst überlassen konnte.
    Mein Vater war eigentlich nicht gebrechlich - jedenfalls
nicht wirklich. Aber er hatte ein schwaches Herz und brauchte bei vielen Dingen einfach Hilfe, besonders da meine Mutter schon lange Zeit fort war. Also musste ich einspringen, was ich auch gerne tat. Um ehrlich zu sein, hatte ich auch sonst nicht viel mehr zu tun, denn in unserer Kleinstadt war ich ein Außenseiter, fast eine Ausgestoßene.
    Es ist schon verrückt, wie viel freie Zeit man hatte, wenn man der Sonderling vom Dienst war.
    Nachdem ich mich noch um die Wäsche gekümmert und das Badezimmer im Erdgeschoss geputzt hatte, ging ich nach oben, um zu duschen. Ich wäre lieber den ganzen Tag mit Salz auf der Haut herumgelaufen, aber nicht einmal hier bei uns in Rockabill galt Eau de Sole als akzeptables Parfum. Wie viele Frauen in den Zwanzigern war ich früh aufgestanden, um etwas Sport zu treiben. Aber anders als bei den meisten bestand mein Workout darin, mindestens eine Stunde lang im eiskalten Atlantik zu schwimmen, noch dazu in einem von Amerikas tödlichsten Gewässern. Deshalb achtete ich auch tunlichst darauf, mein Frühsportprogramm nicht an die große Glocke zu hängen. Es mochte zwar ein hervorragendes Ausdauertraining sein, doch würde ich wahrscheinlich auf dem Scheiterhaufen landen, sollte es je bekannt werden. Schließlich waren wir hier in Neuengland.
    Als ich gerade meine Arbeitsklamotten anzog - khakifarbene Chinos und ein langärmeliges pinkes Poloshirt, auf dessen Brusttasche Read it and weep stand -, hörte ich meinen Vater aus seinem Schlafzimmer kommen und die Treppen hinuntergehen. Es war seine Aufgabe, morgens Kaffee zu machen, also nahm ich mir die Zeit, etwas Wimperntusche, Rouge und Lipgloss aufzutragen, und bürstete mein
noch feuchtes, schwarzes Haar. Ich trug einen Cleopatraschnitt - der zugegebenermaßen etwas länger und verstrubbelter war als das Original -, weil ich meine dunklen Augen gerne hinter einem langen, dicken Pony verbarg. Erst kürzlich hatte mein ärgster Widersacher Stuart Gray sie »dämonische Augen« genannt. Vielen Dank, so sehr nach Marilyn Manson sehe ich nun auch wieder nicht aus, aber ich muss zugeben, dass der Übergang zwischen Pupille und Iris nicht leicht zu sehen ist.
    Ich ging hinunter in die Küche zu meinem Vater und spürte wieder einmal diesen Stich im Herzen, als ich sah, wie sehr er sich verändert hatte. Er war Fischer gewesen, aber vor zehn Jahren hatte er sich zur Ruhe setzen müssen. Aufgrund seiner Herzschwäche war er arbeitsunfähig geworden. Einst war er ein gut aussehender, selbstbewusster und muskulöser Mann gewesen, dessen Präsenz jeden Raum füllte, aber durch seine lange Krankheit und das Verschwinden meiner Mutter war er zu einem Schatten seiner selbst geworden. In seinem zerschlissenen Bademantel wirkte er so schmal und grau, und seine Hände zitterten durch das Antiarrhythmikum gegen seine Herzrhythmusstörungen so stark, dass ich mich zusammenreißen musste, ihn nicht dazu zu nötigen, sich hinzusetzen und auszuruhen. Auch wenn sein Körper schwach war, so fühlte er sich doch immer noch als der Mann, der er einmal gewesen war, und ich wusste, dass die Grenze zwischen der Fürsorge um ihn und dem Treten seiner Würde mit Füßen hauchdünn war. Also setzte ich mein strahlendstes Lächeln auf und betrat beschwingt die Küche, als wären wir Vater und Tochter aus einer Sitcom der Fünfzigerjahre.

    »Guten Morgen, Daddy!«, flötete ich.
    »Morgen, Schatz. Magst
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