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Schimmer (German Edition)

Schimmer (German Edition)

Titel: Schimmer (German Edition)
Autoren: Ingrid Law
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1. Kapitel
     
    Als mein Bruder Fish dreizehn wurde, zogen wir so weit wie möglich ins Landesinnere, wegen dem Hurrikan und natürlich weil Fish ihn verursacht hatte. Ich hatte gern im Süden am Rand des Landes gelebt, nah bei den Wellen, die kommen und gehen. Mächtig gern hatte ich dort gelebt, und wegzugehen war hart – so hart wie die Straße beim ersten Sturz mit meinem rosa Fahrrad; meine Hände brannten wie Feuer von dem Schmerz unter der Haut. Aber es war klar, dass Fish auf keinen Fall in der Nähe irgendeines größeren Gewässers wohnen konnte und auch nicht daneben oder darauf oder darüber. Wasser löste bei meinem Bruder etwas aus, und dann nahm ganz normales, alltägliches Wetter eine schreckliche Wendung.  
    Anders als gewöhnliche Hurrikane war Fishs Geburtstagssturm ohne Vorwarnung ausgebrochen. Eben noch hatte mein Bruder in unserem Garten nah am Strand Geschenke ausgepackt, als plötzlich sowohl Fish wie auch der Nachmittagshimmel eigentümlich und erschreckend grau aussahen. Mein Bruder hielt sich am Rand des Picknicktisches fest, während der Wind um ihn herum auffrischte, kräftiger wurde und ihm das Geschenkpapier aus den Händen riss, es hoch in den Himmel segeln ließ, die Luftschlangen und Ballons zu einem Knäuel zusammenfegte, bis sie in Fetzen rissen wie eine Geburtstagsparty im Mixer. Es ächzte und knackte, Bäume bebten und bogen sich, wurden entwurzelt und fielen wie Stöcke auf den nassen Sand. Regen prasselte auf uns nieder, als würde ein ungezogener Junge auf dem Spielplatz mit Kies werfen, Fenster zerbrachen, Schindeln fielen von den Dächern. Als der Sturm anschwoll und der Ozean wogte und schäumte und wütendes Wasser samt Treibgut immer weiter auf den Strand spülte, packten Momma und Poppa Fish und hielten ihn fest, während wir anderen Schutz suchten. Momma und Poppa wussten, was los war. Sie hatten mit so etwas gerechnet, sie wussten, dass sie meinen Bruder beruhigen und ihm helfen mussten, seinen Sturm heil zu überstehen.  
    Es war der kürzeste Hurrikan, der je gemessen wurde, doch um die Küstenorte vor unserem Fish zu bewahren, packten wir alles zusammen und zogen tief ins Landesinnere, stießen regelrecht ins Herz des Landes vor und ließen uns erst nieder, als wir richtig mittendrin waren. Dort, wo es keine größeren Gewässer gibt, die Stürme anfachen konnten, durfte Fish es ruhig wehen und regnen lassen.  
    Genau zwischen Nebraska und Kansas fanden wir einen kleinen Fleck ganz für uns allein nicht weit vom Highway 81, außer Rufweite vom nächsten Nachbarn, und das war für eine Familie wie unsere auch besser so. Der nächste Ort war nur ein verschwommener Fleck in der Ferne, und er war nicht mal so groß, dass er eine Schule gehabt hätte oder einen Laden, eine Tankstelle oder einen Bürgermeister.  
    Von Montag bis Mittwoch nannten wir unser schmales Stück Land Kansaska. Von Donnerstag bis Samstag nannten wir es Nebransas. Am Sonntag, der ja der Tag des Herrn ist, nannten wir es überhaupt nichts, aus Respekt davor, dass Gott unsere Welt ohne Grenzlinien geschaffen hat und sie nicht von Anbeginn so aussah wie das zerfurchte Gesicht meines Opas.  
    Ohne den alten Opa Bomba gäbe es Kansaska-Nebransas überhaupt nicht, und dann könnten wir auch nicht dort wohnen. Als Opa noch kein Opa war, sondern ein Lausebengel, der dreizehn tropfende Kerzen auf einer windschiefen Geburtstagstorte auspustete, erwischte sein Schimmer ihn hart und heftig – genau wie es Fish später auf der Geburtstagsfeier im Garten mit dem Hurrikan ergehen sollte – und der ganze Staat Idaho entstand aus dem Nichts. So hat Opa Bomba es jedenfalls erzählt. »Bevor ich dreizehn wurde«, sagte er immer, »stieß Montana direkt an Washington, und Wyoming und Oregon lagen kuschlig beieinander.« Die Geschichte von Opas dreizehntem Geburtstag war im Laufe der Jahre immer größer geworden, genau wie das Land, das er strecken und verrücken konnte, und Momma schüttelte nur den Kopf und lächelte, wenn er seine Lügengeschichten erzählte. Aber tatsächlich hat dieser kleine Junge, der wuchs und alt wurde wie Wein und Dreck, neue Orte geschaffen, wo immer es ihm gefiel. Das ist Opas Schimmer.  
    Mein Schimmer hatte mich noch nicht erwischt. Aber es waren nur noch zwei Tage bis zu meinen dreizehn tropfenden Kerzen – obwohl die Torten, die meine Momma backt, niemals windschief sind. Mommas Torten sind vollkommen wie Momma selbst, denn das ist ihr Schimmer. Momma ist
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