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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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als er wieder allein ist und nicht schlafen kann, starrt er stundenlang seine Hand im Mondlicht an und überlegt, wer wohl die Person sein könnte, an die er gebunden ist.
    *
    Abertausende Meilen entfernt, in einem ausverkauften Saal, erhält der Mann auf der Bühne donnernden Applaus, während Celia Bowen hinter der Bühne im Schatten alter Kulissenteile kauert und weint.

Le Bateleur
    LONDON, MAI – JUNI 1884
    K urz bevor der Junge neunzehn wird, holt ihn der Mann im grauen Anzug ohne Vorwarnung aus dem Haus und bringt ihn in eine kleine Wohnung mit Blick auf das Britische Museum.
    Zuerst glaubt der Junge, der Umzug sei nur vorübergehend. In letzter Zeit waren sie des Öfteren für ein paar Wochen oder auch Monate in Griechenland, Frankreich oder Deutschland gewesen, meistens eher zum Arbeiten als zum Besichtigen. Doch diesmal ist es keiner ihrer vermeintlichen Urlaubsaufenthalte in Luxushotels.
    Es ist eine einfache Wohnung mit schlichter Ausstattung, die seiner vorherigen Unterkunft derart ähnelt, dass so etwas wie Heimweh kaum aufkommen kann. Allein die Bibliothek fehlt ihm, obwohl auch hier Bücher in beeindruckender Menge stehen.
    In einem Kleiderschrank hängen elegant geschnittene, aber unauffällige schwarze Anzüge. Frisch gebügelte weiße Hemden. Zusätzlich eine Reihe maßgefertigter Bowlerhüte.
    Er möchte wissen, wann das, was immer nur seine »Prüfung« genannt wird, beginnt. Der Mann im grauen Anzug lässt die Frage unbeantwortet, auch wenn der Umzug in die Wohnung den offiziellen Teil seiner Ausbildung eindeutig beendet.
    Und so bringt er sich nun auf eigene Faust neue Dinge bei. Er kritzelt eine Unzahl von Symbolen und Zeichen in Notizbücher, arbeitet seine alten Aufzeichnungen noch einmal durch und entdeckt neue interessante Dinge. Wenn er aus dem Haus geht, hat er immer ein kleines Notizbuch dabei, und überträgt, wenn es voll ist, seine Aufzeichnungen fein säuberlich in größere
Bücher.
    In jedes neue Notizbuch zeichnet er zunächst mit schwarzer Tinte einen filigranen Baum auf die Innenseite des Deckels. Von dort aus ranken lange Zweige über die folgenden Seiten, verknoten sich zu Buchstaben und Zeichen, bis fast alles Papier mit Tinte bedeckt ist. Auf diese Weise sind alle Buchstaben, alle Runen und Glyphen miteinander verwoben und mit dem ursprünglichen Baum verwurzelt.
    In seinem Bücherregal steht, sorgfältig aufgereiht, ein ganzer Wald aus diesen Bäumen.
    Er übt das Gelernte immer wieder, auch wenn es für ihn allein schwierig ist, die Wirkung seiner Kunststücke einzuschätzen. Deshalb verbringt er viel Zeit mit Übungen vor dem Spiegel.
    Auf freiem Fuß und ohne festen Stundenplan erkundet er auf langen Spaziergängen die Stadt. Allein die Vielzahl von Menschen ist nervenaufreibend, aber die Freude, dass er die Wohnung jederzeit verlassen kann, überwiegt seine Angst vor Zusammenstößen mit anderen Passanten.
    Er sitzt in Parks und Cafés und beobachtet Leute, die ihn dank seiner unauffälligen Erscheinung mit Anzug und steifem Hut in der Menge der Flaneure nicht weiter beachten.
    Eines Nachmittags kehrt er zu seinem alten Haus zurück und hofft, dass es keine Zumutung ist, wenn er seinen Lehrmeister vielleicht zum Tee besucht, doch das Gebäude ist verlassen, die Fenster sind vernagelt.
    Auf dem Rückweg zu seiner Wohnung befühlt er seine Tasche und stellt fest, dass sein Notizbuch verschwunden ist.
    Er flucht laut und handelt sich den strafenden Blick einer Passantin ein, weil sie ausweichen muss, als er auf dem überfüllten Gehweg unvermittelt stehen bleibt.
    Er macht auf dem Absatz kehrt und wird an jeder Straßenecke unruhiger.
    Ein leichter Regen setzt ein, kaum mehr als ein Nieseln, doch in der Menge springen mehrere Schirme auf. Er zieht die Hutkrempe herunter, um seine Augen zu schützen, und hält auf dem immer feuchter werdenden Gehweg Ausschau nach seinem Notizbuch.
    Unter der Markise eines Cafés bleibt er stehen und sieht, wie in der ganzen Straße die Laternen aufflackern. Er überlegt, ob er warten soll, bis weniger Leute unterwegs sind und der Regen nachlässt. Und dann sieht er ein paar Schritte weiter ein Mädchen, das ebenfalls unter der Markise Schutz gesucht hat und in einem Notizbuch liest, das nur sein eigenes sein kann.
    Sie ist ungefähr achtzehn, vielleicht etwas jünger. Ihre Augen sind hell, und ihr Haar ist von einer unbestimmten Farbe, die sich offenbar nicht entscheiden kann, ob sie blond sein will oder braun. Sie trägt ein Kleid, das
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