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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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wenige oder gar keine Besucher mehr anwesend sind. Der Junge liebt diese Ausflüge wegen der interessanten Dinge in diesen Gebäuden und wegen der Ablenkung vom täglichen Einerlei. Aber sie finden selten statt, und er darf das Haus nie ohne Begleitung verlassen.
    Der Mann im grauen Anzug besucht ihn täglich und bringt meistens einen Stapel neuer Bücher mit. Er bleibt genau eine Stunde und lehrt ihn Dinge, von denen der Junge nicht weiß, ob er sie jemals verstehen wird.
    Nur einmal erkundigt er sich, wann er eigentlich eines der Kunststücke ausprobieren darf, die ihm der Mann im grauen Anzug ganz selten in den streng festgelegten Unterrichtsstunden vorführt.
    »Wenn du so weit bist«, lautet die knappe Antwort.
    Es wird noch einige Zeit dauern, bis es heißt, dass er so weit ist.
    *
    Die Tauben, die bei Prosperos Vorführungen auf der Bühne und manchmal im Publikum erscheinen, werden in kunstvollen Käfigen gehalten und zusammen mit dem Rest seines Gepäcks und Zubehörs in das jeweilige Theater geliefert.
    Durch eine zuschlagende Tür fällt ein Stapel Koffer und Kisten in Prosperos Garderobe um und reißt dabei einen Käfig voller Tauben mit zu Boden.
    Die Koffer richten sich sofort wieder auf, aber Hector hebt den Käfig hoch, um den Schaden zu begutachten.
    Während die meisten Tauben von dem Sturz nur benommen sind, hat eine offensichtlich einen gebrochenen Flügel. Vorsichtig nimmt Hector den Vogel heraus, und die verbogenen Gitterstäbe reparieren sich, als er den Käfig absetzt.
    »Kannst du den Flügel heilen?«, fragt Celia.
    Ihr Vater betrachtet die verletzte Taube und dann wieder seine Tochter. Er wartet darauf, dass sie eine andere Frage stellt.
    »Darf ich ihn heilen?«, fragt sie nach einer Weile.
    »Du kannst es versuchen«, sagt ihr Vater und reicht ihr den Vogel.
    Celia streichelt zärtlich die zitternde Taube und starrt konzentriert auf den gebrochenen Flügel.
    Der Vogel stößt einen schmerzvollen, erstickten Schrei aus, ganz anders als das übliche Gurren.
    »Ich schaffe es nicht«, sagt Celia mit Tränen in den Augen und reicht ihrem Vater den Vogel.
    Hector nimmt die Taube, dreht ihr den Hals um und ignoriert den empörten Schrei seiner Tochter.
    »Bei Lebewesen gelten andere Regeln«, sagt er. »Du solltest mit etwas Leichterem üben.« Er nimmt Celias einzige Puppe von einem Stuhl und lässt sie auf den Boden fallen, so dass der Porzellankopf zerschellt.
    Als Celia am nächsten Tag mit der reparierten Puppe vor ihrem Vater erscheint, nickt er nur beifällig, schickt sie mit einem Wink fort und macht mit den Vorbereitungen für seine Vorstellung weiter.
    »Du hättest die Taube retten können«, sagt Celia.
    »Dann hättest du nichts gelernt«, erwidert Hector. »Du musst deine Grenzen kennen, damit du sie überwinden kannst. Du möchtest doch gewinnen, oder?«
    Celia blickt auf ihre Puppe hinab. Nichts deutet darauf hin, dass sie jemals kaputt war, kein einziger Riss in dem leeren, lächelnden Gesicht.
    Sie wirft sie unter einen Stuhl und nimmt sie auch nicht mit, als sie und ihr Vater das Theater verlassen.
    *
    Der Mann im grauen Anzug nimmt den Jungen für eine Woche mit nach Frankreich, aber nicht, um dort Urlaub zu machen. Die Reise ist unangekündigt, der kleine Koffer des Jungen wurde ohne sein Wissen gepackt.
    Der Junge geht davon aus, dass er dort Unterricht erhält, aber er erfährt nicht, worin. Nach dem ersten Tag fragt er sich, ob sie nur wegen des Essens in Frankreich sind, weil er ganz verzaubert ist von dem knusprig frischen Brot in den Boulangeries und der schier endlosen Auswahl an Käsesorten.
    Am frühen Abend gehen sie in stille Museen, wo der Junge versucht, so lautlos durch die Galerien zu gehen wie sein Lehrmeister. Aber es gelingt ihm nicht, und er zuckt bei jedem widerhallenden Schritt zusammen. Als er um ein Skizzenbuch bittet, behauptet der Mann im grauen Anzug, es sei besser für ihn, die Bilder im Gedächtnis zu speichern.
    Eines Abends wird der Junge ins Theater geschickt.
    Er rechnet mit einem Dramenstück oder vielleicht einer Ballettaufführung, aber er bekommt eine ungewöhnliche Vorstellung zu sehen.
    Der Mann auf der Bühne, ein Herr mit glattem Haar und Bart, dessen weiße Handschuhe sich vor seinem schwarzen Anzug wie Vögel bewegen, zeigt einfache Kunststücke und Zaubertricks. Vögel verschwinden aus Käfigen mit doppelten Böden, Tücher gleiten aus Taschen, um wieder in Ärmelaufschlägen zu verschwinden.
    Neugierig beobachtet der Junge den
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