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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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mache, echt ist«, sagt er und zeigt in die ungefähre Richtung der Bühne. »Das ist ja das Schöne daran. Hast du die verrückten Apparate gesehen, die sich angebliche Zauberer für die banalsten Tricks zurechtbasteln? Sie sind alle nur Fische mit Federn, die dem Publikum weismachen wollen, sie könnten fliegen, und ich bin der Vogel in ihrer Mitte. Das Publikum kennt den Unterschied nicht, es merkt nur, dass ich besser bin.«
    »Das ist noch lange kein Grund, es zu täuschen.«
    »Dazu kommen die Leute doch her«, sagt Hector. »Und ich kann es besser als die meisten anderen. Wäre doch Verschwendung, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen. Außerdem springt dabei mehr heraus, als man meinen sollte. Möchtest du etwas trinken? Irgendwo müssen Flaschen versteckt sein, ich weiß allerdings nicht, ob es auch Gläser gibt.« Er sucht auf einem Tisch, schiebt Zeitungsstapel und einen leeren Vogelkäfig beiseite.
    »Nein, danke«, sagt der Mann im grauen Anzug, setzt sich im Sessel zurecht und legt die Hände auf den Knauf seines Gehstocks. »Ich fand deine Vorstellung befremdlich und die Reaktion des Publikums recht verblüffend. Du warst nicht sehr genau.«
    »Wenn sie mich für einen Blender halten sollen wie den Rest meiner Kollegen, darf ich nicht zu gut sein«, sagt Hector mit einem Lachen. »Aber danke, dass du meine Vorstellung durchgestanden hast. Es wundert mich, dass du überhaupt da warst, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Die Loge war die ganze Woche für dich reserviert.«
    »Ich schlage Einladungen selten aus. In deinem Brief stand, du willst mir etwas vorschlagen.«
    »Allerdings!«, sagt Hector und klatscht in die Hände. »Ich hatte gehofft, dass du zu einem Spiel bereit bist. Wir haben schon lange nicht mehr gespielt. Aber zuerst möchte ich dir mein neues Projekt vorstellen.«
    »Ich dachte, du hast das Unterrichten aufgegeben.«
    »Hatte ich auch, aber dieser einmaligen Gelegenheit konnte ich nicht widerstehen.« Hector geht zu einer Tür, die fast gänzlich hinter einem großen Standspiegel verborgen ist. »Celia, meine Liebe«, ruft er in das benachbarte Zimmer und kehrt dann zu seinem Stuhl zurück.
    Wenig später erscheint ein kleines Mädchen in der Tür, viel zu hübsch gekleidet für das Chaos und die Schäbigkeit der Umgebung. Nur Schleifen und Spitze, tadellos wie eine neue Puppe, bis auf die widerspenstigen Locken, die sich aus ihren Zöpfen gelöst haben. Als sie sieht, dass ihr Vater nicht allein ist, bleibt sie zögernd an der Schwelle stehen.
    »Schon gut, meine Liebe. Komm her, nur zu«, sagt Hector und winkt sie mit der Hand zu sich. »Das ist ein Kollege von mir, du musst nicht schüchtern sein.«
    Sie tritt ein paar Schritte näher und macht einen schönen Knicks, so dass der Spitzensaum ihres Kleides über den abgelaufenen Holzfußboden streift.
    »Das ist meine Tochter Celia«, sagt Hector zu dem Mann im grauen Anzug und legt dem Mädchen seine Hand auf den Kopf. »Celia, das ist Alexander.«
    »Freut mich«, sagt sie. Ihre Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern und tiefer, als man von einem Mädchen ihres Alters erwarten würde.
    Der Mann im grauen Anzug nickt ihr höflich zu.
    »Ich möchte, dass du diesem Herrn zeigst, was du kannst«, sagt Hector. Er zieht eine silberne Taschenuhr an einer langen Kette aus seiner Weste und legt sie auf den Tisch. »Fang an.«
    Das Mädchen macht große Augen.
    »Aber ich darf es niemandem zeigen«, sagt sie. »Das musste ich dir versprechen.«
    »Dieser Herr ist nicht irgendwer«, erwidert Hector lachend.
    »Du hast gesagt, keine Ausnahmen«, gibt Celia zurück.
    Das Lächeln ihres Vaters verschwindet. Er packt sie an den Schultern und schaut ihr streng in die Augen.
    »Das ist ein Sonderfall«, sagt er. »Bitte zeig dem Herrn, was du kannst. Genau wie im Unterricht.« Er schiebt sie zum Tisch, auf dem die Uhr liegt.
    Das Mädchen nickt ernst und wendet seine Aufmerksamkeit der Uhr zu, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
    Gleich darauf beginnt die Uhr langsam zu rotieren, dreht sich in Kreisen auf dem Tisch und zieht die Kette in einer Spirale hinter sich her. Dann erhebt sich die Uhr vom Tisch, schwebt in der Luft und verweilt dort, als hinge sie im Wasser.
    Hector blickt erwartungsvoll zu dem Mann im grauen Anzug.
    »Beeindruckend«, sagt der Mann. »Aber ziemlich einfach.«
    Celia runzelt die Stirn über ihren dunklen Augen: Die Uhr zerspringt, ihr Innenleben zerstiebt in alle Richtungen.
    »Celia«, sagt ihr
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