Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
Vom Netzwerk:
vom Boden. Die Scherben fliegen auf und ordnen sich um die Flüssigkeit herum, bis die Tasse wieder heil ist und feiner Dampf von ihr aufsteigt.
    Das Mädchen starrt mit großen Augen auf die Tasse.
    Hector Bowen nimmt das Gesicht seiner Tochter in seine behandschuhte Hand und schaut sie prüfend an. Als er sie wieder loslässt, sind auf ihren Wangen die roten Abdrücke seiner Finger zu sehen.
    »Du könntest interessant sein«, sagt er.
    Das Mädchen bleibt stumm.
    In den folgenden Wochen unternimmt er mehrere Versuche, ihr einen neuen Namen zu geben, aber sie hört nur auf Celia.
    *
    Einige Monate später – der Zauberer ist zu dem Schluss gekommen, dass sie nun so weit sei – schreibt er seinerseits einen Brief. Und obwohl er ihn nicht adressiert, erreicht er seinen Bestimmungsort jenseits des Ozeans ohne Probleme.

Eine Wette unter Ehrenmännern
    LONDON, OKTOBER 1873
    H eute Abend ist die letzte Vorstellung eines sehr kurzen Engagements. Zauberer Prospero hat London schon seit einiger Zeit nicht mehr beehrt und war nur für eine Woche gebucht, Abendauftritte, keine Nachmittage.
    Trotz der unverschämt teuren Preise waren die Eintrittskarten schnell ausverkauft, und das Theater ist so voll, dass sich viele Damen gegen die stickige Hitze, die trotz des herbstlichen Wetters draußen im Zuschauerraum herrscht, Kühlung ins Dekolleté fächern.
    Irgendwann im Laufe des Abends verwandeln sich alle Fächer in kleine Vögel, die unter tosendem Applaus durch das Theater schwirren. Als die Vögel ihren Besitzerinnen dann wieder ordentlich gefaltet in den Schoß fallen, nimmt der Applaus noch zu – obwohl einige Damen vor Staunen vergessen zu
klatschen.
    Ein Mann im grauen Anzug, der links der Bühne in einer Loge sitzt, applaudiert nicht, weder bei dieser noch bei anderen Darbietungen. Er beobachtet den Mann auf der Bühne während des gesamten Abends mit gleichbleibend prüfendem Blick. Selbst bei Kunststücken, die dem gebannten Publikum begeisterten Applaus oder erstaunte Ausrufe entlocken, zuckt er nicht mit der Wimper.
    Nach der Vorstellung schiebt sich der Mann im grauen Anzug geschickt durch die Menschenmenge im Theaterfoyer. Unbemerkt schlüpft er durch eine Tür hinter einem Vorhang zu den Garderoben hinter der Bühne. Kein Bühnenarbeiter oder Ankleider schenkt ihm Beachtung.
    Am Ende des Flurs klopft er mit dem Silberknauf seines Gehstocks an eine Tür.
    Die Tür fliegt auf wie von Geisterhand und gibt den Blick frei auf eine unaufgeräumte Garderobe, gesäumt von Spiegeln, die Zauberer Prospero aus unterschiedlichen Blickwinkeln zeigen.
    Sein Frack liegt unordentlich auf einem Samtsessel, die Weste über seinem spitzenbesetzten Hemd steht offen. Der Zylinder, während der Vorstellung ein wichtiges Requisit, befindet sich auf einem Hutständer.
    Auf der Bühne wirkte Prospero jünger, die grellen Scheinwerfer und das dicke Make-up konnten sein Alter gut verbergen. Das Gesicht in den Spiegeln ist faltig, sein Haar schon sehr grau. Aber das Grinsen beim Anblick des Mannes in der Tür hat etwas Jugendliches.
    »Du fandest es schrecklich, nicht wahr?«, fragt er das geisterhafte graue Spiegelbild, ohne sich ihm zuzuwenden. Mit einem Taschentuch, das früher vielleicht einmal weiß war, wischt er sich einen dicken Rest Puder aus dem Gesicht.
    »Schön, dich zu sehen, Hector«, sagt der Mann im grauen Anzug und schließt leise die Tür.
    »Dir war jede Sekunde zuwider, das weiß ich genau«, sagt Hector Bowen lachend. »Ich habe dich beobachtet, gib dir also keine Mühe und streite es ab.«
    Er dreht sich um und reicht dem Mann im grauen Anzug seine Hand, die jedoch ignoriert wird. Hector zuckt darauf nur die Schultern und winkt mit theatralischer Geste in Richtung der gegenüberliegenden Wand. Der Samtsessel rutscht aus seiner mit Koffern und Schals vollgepackten Ecke hervor, während der Frack wie ein Schatten emporschwebt und sich gehorsam in einen Schrank hängt.
    »Bitte, nimm Platz«, sagt Hector. »Ich fürchte allerdings, hier ist es nicht so bequem wie oben.«
    »Du weißt, was ich von solchen Aufführungen halte«, sagt der Mann im grauen Anzug, zieht seine Handschuhe aus und fährt damit über den Sessel, bevor er sich setzt. »Billige Tricks als Zauberkunst und Magie verkaufen. Und dafür auch noch Geld verlangen.«
    Hector wirft das puderverschmierte Taschentuch auf einen Tisch voller Pinsel und Schminktöpfe.
    »Kein Mensch im Publikum glaubt auch nur eine Sekunde lang, dass das, was ich da oben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher