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Der müde Bulle

Der müde Bulle

Titel: Der müde Bulle
Autoren: Joseph Wambaugh
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Teufelsaustreiber, das Leben schon in dieser Welt zur Hölle. Man konnte zwar sehen, wie er den Mund aufriß und aus Leibeskräften schrie, aber kein Wort von ihm hören, sobald die Krischna-Jünger loslegten.
    Noch bis vor kurzem war dies Hermans Ecke gewesen. Und schon bevor ich hier zu arbeiten begonnen hatte, war Herman berechtigt gewesen, an dieser Stelle zehn Stunden pro Tag seine Traktate zu verteilen und die Vorübergehenden lauthals über Dämonen und Verdammnis aufzuklären, was ihm im Schnitt vielleicht zwölf Dollar täglich einbrachte, die er jedoch ausschließlich von Leuten bekam, die einfach Mitleid mit ihm hatten. Er hatte früher einmal einen durchaus aufgeweckten Eindruck gemacht, aber inzwischen wirkte er alt und müde und verstaubt. Sein schimmernd schwarzer Anzug war abgewetzt, und sein ausgefranster weißer Kragen hatte inzwischen ein schmutziges Grau angenommen. Aber das alles schien Herman nicht weiter zu stören. Ich hatte mir schon überlegt, ob ich ihn nicht dazu überreden sollte, sich ein paar Häuserblocks weiter den Broadway hinunter aufzustellen, wo er nicht mit diesen farbenprächtigen Jugendlichen und ihrer Musik konkurrieren müßte. Aber mir war klar, daß das keinen Zweck gehabt hätte. Herman hatte seinen Stammplatz schon zu lange. Während ich zu meinem Wagen ging, mußte ich an ihn denken, den armen, alten Teufelsaustreiber.
    Als ich in meinen Sattelsitz stieg, machte sich in meinem Magen ein allzu vertrauter Schmerz bemerkbar, und ich nahm ein paar Tabletten gegen Sodbrennen. Ich schleppte ganze Hosentaschen voller Pillen mit mir herum. In der rechten Tasche hatte ich die Tabletten gegen Sodbrennen und in der linken die Luftblasenkiller. Die Luftblasenkiller nehme ich gegen Blähungen, die mich zusammen mit meinem übersäuerten Magen mehr oder weniger ständig beschäftigen. Ich lutschte meine Pillen, und das Sodbrennen ließ nach. Dann dachte ich an Cassie. Das half nämlich manchmal auch, meinen Magen zu beruhigen. Die Entscheidung, mich nach zwanzig Dienstjahren pensionieren zu lassen, war schon vor einigen Wochen gefallen, und Cassie hatte bereits eine Menge Pläne gefaßt. Allerdings wußte sie nicht, daß ich mich am Abend zuvor entschlossen hatte, schon am Freitag zum letztenmal Dienst zu tun. Heute, morgen und Freitag – und dann war Schluß. Wenn ich alle mir noch zustehenden Urlaubstage zusammennahm, reichten sie dann genau bis zum Monatsende, wo ich offiziell in den Ruhestand hätte treten sollen.
    Freitag war auch ihr letzter Tag am Los Angeles City College. Sie hatte für die Abschlußprüfungen bereits alles vorbereitet und deshalb die Erlaubnis erhalten, den Schuldienst verfrüht zu quittieren, da man bereits eine Ersatzkraft für sie gefunden hatte. Sie hatte ein günstiges Angebot – eine ›großartige Gelegenheit‹, wie sie es nannte –, an einer teuren Mädchenschule in der Nähe von San Franzisco zu unterrichten. Die Schulleitung wollte jedoch, daß sie möglichst jetzt schon dort antanzte, bevor die Sommerferien anfingen, damit sie sich noch ein bißchen einarbeiten konnte. Sie hatte geplant, am Montag abzureisen, um am Monatsende, wenn ich meinen Dienst quittieren sollte, wieder nach Los Angeles zurückzukommen, wo wir dann heiraten wollten. Und dann würden wir gemeinsam in unsere neue Wohnung ziehen, die sie inzwischen voll eingerichtet haben würde. Aber ich hatte mich kurzfristig entschlossen, schon am Freitag aufzuhören und mit ihr zu kommen. Es hat keinen Sinn, noch länger herumzutrödeln, dachte ich. Es war besser, das alles möglichst schnell hinter uns zu bringen, und ich wußte auch, daß das ganz in Cruz' Sinn war.
    Cruz Segovia war mein Sergeant und seit zwanzig Jahren mein nächster Vertrauter. Er hatte ständig Angst, es könnte noch etwas passieren, und ich hatte ihm versprechen müssen, mir das nicht mehr zu versauen – die größte Chance, die sich mir je in meinem Leben geboten hatte. Und das war Cassie auch – daran bestand kein Zweifel. Lehrerin, geschieden, kinderlos, mit einer hervorragenden Ausbildung, also nicht nur ein paar College-Abschlüssen. Mit ihren vierundvierzig Jahren sah sie noch jung aus und hatte alles, was man sich von einer Frau wünschen konnte.
    Ich hatte mich daraufhin also ein wenig umgehört, was es für einen pensionierten Polizisten in der Bay area so zu tun geben könnte. Und ich hätte doch verdammt sein wollen, wenn ich dabei nicht gleich an einen hervorragenden Job bei einer Gesellschaft
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