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Der müde Bulle

Der müde Bulle

Titel: Der müde Bulle
Autoren: Joseph Wambaugh
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bog ich vom Broadway in einen Hinterhof ein und stieg aus dem Wagen. Ich konnte plötzlich überhaupt nichts mehr sehen und übergab mich. Ich kotzte alles heraus, alles. Der Fahrer eines Kombis hielt an und sagte etwas zu mir, aber ich winkte nur ab und würgte alles aus mir heraus.
    Dann stieg ich wieder ein, und der Schock legte sich langsam. Ich fuhr zu einer Telefonzelle, um Cassie anzurufen, bevor sie ihr Büro verließ. Ich quetschte mich in die Zelle, von Magenkrämpfen geschüttelt, und ich weiß wirklich nicht mehr, was ich alles zu ihr sagte, außer daß Cruz tot war und ich nicht mit ihr kommen würde. Jetzt nicht, und auch später nicht. Und dann weinte sie am anderen Ende der Leitung, und wir redeten eine Menge sinnloses, wirres Zeug, bis ich mich schließlich sagen hörte: »Ja, ist ja gut, Cassie. Fahr du schon mal ab. Ja, vielleicht denke ich in einer Weile anders über das Ganze. Ja. Ja. Ja. Ja. Ja. Fahr du schon mal nach San Franzisco. Vielleicht komme ich dann eines Tages nach. Vielleicht denke ich in einer Weile wieder anders über die Sache. Ja.«
    Und dann saß ich wieder in meinem Wagen und fuhr los. Ich wußte, daß ich an diesem Abend zu Socorro fahren mußte, um ihr beizustehen. Ich wollte Cruz so schnell wie möglich beerdigen lassen, und ich hoffte, daß sie in diesem Punkt einer Meinung mit mir sein würde. Und dann, erst nur langsam und dann immer schneller, hatte ich das Gefühl, als würde eine enorme Last von meinen Schultern genommen. Es hatte keinen Sinn, dieses Gefühl lange zu analysieren – es war einfach da.
    Ich fühlte mich irgendwie leicht und frei – genauso, wie ich damals in meinem Revier angefangen hatte. »Jetzt gibt es nur noch die Puta. Aber es ist keine Puta, 'mano. Nein, das ist es beileibe nicht!« murmelte ich vor mich hin, wohl wissend, daß dies das letztemal war, daß ich uns beide belog. »Du kennst einfach nicht den Unterschied zwischen einer Hure und einer verführerischen Frau. Und ich werde sie so lange wie möglich halten, Cruz, und wenn ich sie einmal nicht mehr halten kann, dann wird sie jemand bekommen, der sie halten kann. Das kannst du ihr nicht zum Vorwurf machen. So ist die Welt nun einmal geschaffen.« Und Cruz antwortete nicht auf meine Lüge, und ich konnte seine Augen nicht sehen. Er war weg. Jetzt war er nichts weiter mehr als Herky.
    Ich fing an, über all die wandernden Völker und Stämme nachzudenken – die Indianer, Armenier und den Beduinen auf diesem Granitfelsen, auf dem ich nie stehen würde. Und jetzt wußte ich, daß dieser Beduine nichts als Sand in diesem Tal vor sich sah.
    Und während all diese Gedanken noch durch meinen Kopf zogen, blickte ich kurz nach links und starrte genau in den Rachen des Pink Dragon, des Roten Drachen. Ich fuhr weiter in Richtung Wache, aber je weiter ich fuhr, desto größer wurde die Wut in mir, und die Wut vermischte sich mit meinem neu gewonnenen Gefühl der Freiheit, bis ich mich für ein paar Sekunden wie der stärkste und mächtigste Mann auf der ganzen Welt fühlte – wie ein richtiger Macho, wie Cruz gesagt hätte. Ich wendete und fuhr zum Pink Dragon zurück. Der Tag war gekommen, an dem der Drachen sterben sollte, dachte ich. Ich konnte Marvin dazu bringen, daß er mich angriff, und die anderen würden ihm helfen. Aber niemand würde es mit mir aufnehmen können, und ich würde den Drachen am Ende vernichten.
    Dann sah ich auf mein Abzeichen hinab und stellte fest, daß es durch den Smog erheblich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Es war angelaufen und mit einem Tropfen von Cruz' Blut befleckt. Ich hielt vor Rollos Laden an und trat ein.
    »Polieren Sie mir mal ganz schnell mein Abzeichen, Rollo! Ich hab's eilig.«
    »Sie wissen doch, daß Ihr Abzeichen noch keine einzige schadhafte Stelle hat.«
    »Los, polieren Sie mir das verdammte Ding!«
    Rollo sah mit seinen müden Augen zu mir auf, und bevor er sich dann über das Poliergerät beugte, wanderte sein Blick über meine Hose und meine blutigen Knie.
    »Da, Bumper.« Rollo reichte mir das Abzeichen, als er mit dem Polieren fertig war.
    Ich nahm es an der Nadel und eilte aus dem Laden.
    »Seien Sie vorsichtig, Bumper!« rief Rollo mir nach. »Seien Sie vorsichtig!«
    Als ich an Rollos Schaufenster vorbeihastete, spiegelte ich mich in dem blauen Sonnenschutzüberzug aus Plastik. Ich warf einen kurzen Blick auf mein Spiegelbild und mußte über den grotesk verzerrten, dicken Polizisten lachen, der mit seinem schimmernden Abzeichen
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