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Der müde Bulle

Der müde Bulle

Titel: Der müde Bulle
Autoren: Joseph Wambaugh
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Ich griff nach dem kleinen Lederbeutel mit dem Rosenkranz in seiner Tasche.
    »Sie dürfen ihm nichts wegnehmen«, flüsterte mir Lieutenant Hilliard ins Ohr. Er hatte mir begütigend die Hand auf die Schulter gelegt. »Dazu ist nur der Leichenbeschauer ermächtigt, Bumper.«
    »Sein Rosenkranz«, murmelte ich. »Er hat ihn gewonnen, weil er der einzige in seiner Schule war, der Englisch schreiben konnte. Niemand soll wissen, daß er wie eine Nonne ständig einen Rosenkranz mit sich herumgetragen hat.«
    »Also gut, Bumper, dann nehmen Sie ihn.« Lieutenant Hilliard klopfte mir auf die Schulter, und ich nahm den Rosenkranz an mich. Und dann fiel mein Blick auf die Kiste mit billigen Zigarren, die Cruz' Hand entglitten und zu Boden gefallen war. Daneben lag ein Zehn-Dollar-Schein.
    »Geben Sie mir die Decke da«, bat ich einen jungen Sanitäter, der, weiß im Gesicht, neben seiner Tragbahre stand und eine Zigarette rauchte.
    Er sah erst mich an und dann die Detectives.
    »Geben Sie mir schon diese verdammte Decke!« fuhr ich ihn an. Er reichte sie mir. Ich drückte Cruz die Augen zu, damit er mich nicht mehr so anschauen konnte, und deckte ihn zu. »Ahi te huacho«, flüsterte ich. »Ich werd nach dir sehen, 'mano.« Und im nächsten Augenblick war ich auch schon auf den Beinen und strebte, mühsam nach Luft ringend, auf die Tür zu.
    »Bumper!« rief Lieutenant Hilliard hinter mir her und humpelte mir aufgeregt nach, eine Hand an die schmerzende rechte Hüfte gepreßt.
    Ich blieb stehen, bevor ich die Tür erreichte.
    »Würden Sie es bitte seiner Frau sagen?«
    »Er ist nur in den Laden gekommen, um mir ein Abschiedsgeschenk zu kaufen.« Der Druck in meiner Brust drohte mich zu ersticken.
    »Sie waren sein bester Freund. Sagen Sie es ihr doch!«
    »Er wollte mir nur eine Kiste Zigarren kaufen.« Ich packte den Lieutenant an den Schultern. »Verdammt noch mal, diese billigen Dinger hätte ich sowieso nie geraucht! Verdammt noch mal!«
    »Ist ja schon gut, Bumper. Fahren Sie auf die Wache zurück. Sie brauchen heute nicht mehr zu arbeiten. Fahren Sie gleich nach Hause. Seine Frau werden dann schon wir verständigen. Und versuchen Sie, sich wieder etwas zu beruhigen, ja?«
    Ich nickte und warf einen kurzen Blick auf Clarence Evans, als ich den Drugstore verließ, ohne zu verstehen, was er zu mir sagte. Ich stieg in meinen Wagen und riß meinen Hemdkragen auf, während ich losfuhr und die ganze Zeit an Cruz denken mußte, wie er so verletzlich und nackt und schwach in der Leichenhalle liegen würde, wie sie ihn sezieren und ihm die Lebertemperatur messen würden und wie sie ihm einen Metallstab in das Loch in seinem Gesicht stecken würden, um den Einschußwinkel des Geschosses zu ermitteln. Und ich war richtig froh, daß ich ihm die Augen zugedrückt hatte, so daß er all das nicht mit ansehen mußte.
    »Siehst du, Cruz?« murmelte ich vor mich hin, während ich die Fourth Street überquerte, ohne zu wissen, wohin ich eigentlich fuhr. »Siehst du? Fast hättest du mich überzeugt, aber du hast dich getäuscht. Ich habe doch recht gehabt.«
    »Du solltest keine Angst davor haben, jemanden zu lieben, 'mano«, antwortete Cruz, und ich trat abrupt auf die Bremsen, als ich ihn das sagen hörte. Da ich außerdem fast ein Rotlicht überfahren hätte, hupte ein anderer Autofahrer und schrie mich wütend an.
    »Natürlich kann dir auf diese Weise nichts passieren, Bumper«, sagte Cruz mit seiner sanften Stimme. »Aber zugleich entgeht dir dadurch auch etwas ganz Entscheidendes. Wenn du nicht liebst, verkümmert deine Seele.«
    Als die Ampel auf Grün schaltete, fuhr ich los, ohne irgend etwas wahrnehmen zu können.
    »Hast du das auch geglaubt, als Esteban starb? Hast du auch damals daran geglaubt?«
    »Ja, auch damals habe ich gewußt, daß es so ist«, erwiderte er und senkte seine dunklen, traurigen Augen. Und diesmal überfuhr ich tatsächlich ein Rotlicht. Ich hörte Reifenquietschen und bog völlig verkehrt nach rechts in die Main Street ein. Trotz eines wütenden Hupkonzerts fuhr ich die Straße bis zur nächsten Kreuzung hinunter, um mich dann wieder richtig in den Verkehrsfluß einzuordnen.
    »Schau mich nicht so an mit deinen traurigen Augen!« brüllte ich. Mein Herz flatterte wie ein Taubenflügel. »Du hast nicht recht, du kleiner Narr! Sieh dir doch Socorro an! Sieh dir deine Kinder an! Siehst du denn nicht, daß du dich die ganze Zeit getäuscht hast? Laß mich bloß mit deinen verdammten Augen in Ruhe!«
    Darauf
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