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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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weiß, Mahbube. Aber du bist noch jung. Du mußt wieder heiraten. Ich habe nichts dagegen. Selbst wenn ich eifersüchtig wäre…«
    Ich schnitt ihm das Wort ab. Ich stand auf und holte den Koran aus der Wandnische. Ich setzte mich wieder neben ihn und fragte, »Vertraust du dem Koran, Mansur?«
    »Weshalb denn?«
    »Ich schwöre bei diesem Koran, daß ich nach dir nie wieder heiraten werde. Sei unbesorgt. Und bei diesem Koran schwöre ich, deinem Sohn wie eine Mutter zu sein. Sowohl deinetwegen als auch meinetwegen. Danke Gott, daß ich keine Kinder mehr bekommen habe. Sag, daß dein Sohn mir gehört. Gott hat ihn mir statt meines Sohns geschenkt.«
    Er stieß einen sehnsüchtigen Seufzer aus und schloß die Augen. Er war geschwächt. Er sagte, »Gott weiß, wie sehr ich mir gewünscht hätte, dieser Sohn wäre in Wirklichkeit von dir. Daß alle von dir gewesen wären.«
    Ich sagte, »Das war meine Strafe. Statt dessen habe ich dir deine Kinder gestohlen«, und ich lachte.
    Er lachte, »Gott verfluche dich, Mahbube.«
    »Er hat es schon getan. Wie will er mich noch verdammen?«
    Ich beugte mich zu ihm hinab und küßte ihn auf seine fiebrige Stirn und seine fiebrigen Lippen.
    Man riet mir, ich solle für seine Heilung etwas spenden. ›Verkauf das, was dir am liebsten ist und gib das Geld eigenhändig drei bedürftigen Kranken.‹ Ich ging und holte mein Ashrafi-Kollier, das er mir geschenkt hatte, um es zu verkaufen. Alle sagten, es wäre schade drum. ›Verkauf es nicht. Geh und laß es schätzen und spende den Gegenwert.‹ Ich erwiderte, ›Es ist ja nicht weniger schade um Mansur als darum.‹ Ich verkaufte es und spendete das Geld. Es nützte nichts. Was immer ich versuchte, es half nichts. Seine Hand lag in meiner Hand. Seine Augen blickten in meine. Er rief nach mir, als er starb. Ich war wieder allein. Plötzlich hatte ich meine Zuflucht verloren. Erst jetzt begriff ich richtig, was Schutzlosigkeit bedeutet, und gab mir Mühe, sie seinen jugendlichen Sohn nicht spüren zu lassen. Ich war dem letzten Kind des Mannes, der mein Leben wieder aufgerichtet hatte, eine gute Mutter. Sein Tod hatte mein Herz in Flammen aufgehen lassen. Ich war unfertig, reifte heran und verglühte. Mansur war mein ein und alles. In der Hoffnung auf ihn hatte ich die Tage begonnen. Im Vertrauen auf ihn hatte ich geatmet und gelebt. Die Zuneigung, die ich für ihn empfand, hatte sich nach und nach in meinem Herzen eingewurzelt, und das Ausreißen dieser Wurzeln hätte mittlerweile meinen Tod bedeutet.
    Obwohl Manuchehr und Nahid es nie zugelassen haben, daß ich allein blieb und allein lebte, ist sein Platz in meinem Herzen stets leergeblieben. Seine Tar hängt immer noch an der Wand meines Zimmers, und ich betrachte sie nachts. Wenn ich an die Vergangenheit denke, sehe ich sie an. Als hielte er sie in den Händen und zupfte sie sacht mit dem Plektrum. Als lächelte er und sagte, ›Gottverdamme dich, Mahbube.‹ Sein Blick ist liebevoll und tröstend. Die Erinnerung an ihn schenkt mir Frieden.
    Tantchen verstummte. Die Nacht war angebrochen. Die Laternen im Hof verströmten in der winterlichen Kälte ein milchiges Licht. Keine von beiden dachte daran, die Lichter anzuzünden. Keine von beiden verlangte es nach Helligkeit. Tantchen wischte sich ihre Tränen fort. Sudabeh tat dasselbe, beugte sich vor und küßte ihr die Hand. Diese alte, runzlige Hand, die ein feiner Karneolring schmückte. Diese kleine Hand, die zu küssen einst die Sehnsucht vieler junger Männer war.
    Tantchen sagte, »Einst dachte ich, ein Wunsch meines Vaters hätte sich nicht erfüllt. Nämlich der, daß ich anderen als warnendes Beispiel dienen sollte. Heute nacht habe ich begriffen, daß ich mich irrte. Ich bin zu einem warnenden Beispiel geworden. Für dich, die ich von Herzen liebe. Du ähnelst mir. Es kommt mir fast vor, als wärst du ich. Ich wünsche mir, daß du gut auf dich acht gibst. Ich möchte, daß du weißt, der nächtliche Wein ist nicht den Morgen der Trunkenheit wert.«
    Tantchen verstummte und versank in Gedanken. Plötzlich erinnerte sie sich an ihre Beinschmerzen und stöhnte, »Ich sterbe noch vor Schmerzen.« Dann hob sie den Kopf zum Himmel, »O Herrgott, es reicht. Laß sie nicht hundert Jahre alt werden. Vergib ihr und nimm sie zu dir.«
    Sie verschloß das Kästchen und hängte sich den Schlüssel um den Hals.
    Die Hoftür öffnete sich, und Manuchehrs Wagen fuhr ein. Er kehrte mit seiner kleinen Tochter und seinem kleinen Sohn vom
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