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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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geeigneten Beobachtungsposten, und examinieren Sie den Störenfried oder vielmehr die Störenfriede in aller Ruhe, denn es müssen mehrere sein, da niemand lacht, wenn er allein ist. Setzen Sie bei dieser Operation alle fünf Sinne ein. Die Holzhauer in dieser Gegend sind leicht zu erkennen. Es sind stämmige, bärtige Männer, die durch den ständigen Umgang mit der Axt mächtige Arme entwickelt haben. Sie benutzen karierte Hemden und tragen gewöhnlich eine schwarze Baskenmütze, die sie bis auf die Augenbrauen herabgezogen haben. Es besteht nun die Gefahr – meiner Gewohnheit folgend verhehle ich Ihnen kein Risiko daß unsere Feinde, um jeden Verdacht zu zerstreuen, sich als Holzhauer tarnen. Um einen Irrtum zu vermeiden, rate ich Ihnen daher, nicht nur auf die Art ihrer Kleidung zu achten, sondern auch auf ihre Gesichter. Der Zusammenhang zwischen Soma und Psyche ist nichts Neues. Einer ruchlosen Seele entspricht stets ein ruchloses Gesicht und umgekehrt. Zwar gelingt es einigen Schurken, in langen Stunden vor dem Spiegel mit Hilfe der ausgetüfteltsten Schminktricks ihre wahren Absichten hinter einer rechtschaffenen Miene zu verbergen, aber können sie auch diese henkelförmigen Ohren verbergen, wie sie charakteristisch sind für die gefährlichsten Kriminellen? Können sie diesen hervorstehenden Unterkiefer verbergen, der die schlimmsten Verbrecher kennzeichnet? Können sie diesen flachen Hinterkopf verschwinden lassen, der typisch ist für die großen Alfen und die verrückten Moralisten? Betrachten Sie also aufmerksam die Männer, die Sie auf der Lichtung des Wäldchens entdecken. Treffen Sie keine überstürzte Entscheidung, die Sie später bereuen könnten. Sie dürfen sich nur sehen lassen, wenn Sie überzeugt sind, daß es tatsächlich Holzfäller sind. Aber nicht einmal dann dürfen Sie ihnen den wahren Grund Ihrer Reise entdecken. Hüten Sie sich besonders vor dieser Unvorsichtigkeit, denn nicht selten mischt das Gute sich mit dem Bösen. Von niemandem läßt sich sagen, er sei durch und durch ehrlich oder durch und durch verachtenswert. Die Menschen sind nicht wie die Tasten eines Klaviers, weiß oder schwarz. Ich sage Ihnen das deshalb, weil, wenn bekannt wird, daß Sie der Überbringer eines wichtigen Briefes für den Herrn Grafen sind, es sein kann, daß einem dieser Holzhauer in der Hoffnung auf Beförderung die Zunge durchgeht. Wenn also einer dieser Männer Sie fragt, wohin Sie gehen, so müssen Sie die Achseln zucken. »Heute ist mein freier Tag«, könnten Sie antworten. »Ich habe das Schloß meines Herrn ohne festes Ziel verlassen. Vielleicht werde ich diesen Weg nach Norden fortsetzen – der Richtung, der ich jetzt folge –, vielleicht werde ich mich am Ende aber auch nach Süden, Osten oder Westen wenden. Wer weiß. Freiheit, meine guten Holzhauer, ist ja gerade, nicht zu wissen, was man tun soll, wenn man alles tun kann.« An diesem Punkt Ihrer Rede machen Sie eine Pause und seufzen tief auf. »So ist es, meine bäuerlichen Freunde«, fügen Sie sodann mit einem Kopfnicken hinzu. »Freiheit ist nicht so sehr ein Recht als eine Pflicht und erfordert stets mühselige Verantwortungen. Ich versichere Ihnen daher, daß ich sehr froh wäre, wenn jemand mir jetzt sagen könnte, was ich tun soll und welchem Weg ich zu folgen habe.« Wahrscheinlich werden die Holzhauer, beschränkt wie sie sind, die Bedeutung Ihrer Worte nicht zu begreifen vermögen. Seien Sie sich dessen aber auch nicht zu sicher, denn mehr als einmal ist es vorgekommen, daß Personen niederen Standes die Ausklügelungen ihrer Herren, wenn auch nicht zu verstehen, so doch deren tiefen Sinn auf mysteriöse Weise zu erfassen vermochten. So. manchen gelang es gar, sich für die unsinnigsten Unternehmungen zu begeistern. Wie dem auch sei, wenn Sie sich gezwungen sehen, ihnen eine konkretere Antwort anzubieten, so erfinden Sie irgendeine, die uns nicht gefährdet. Wandeln Sie die Wahrheit listig ab. Geben Sie zu, daß Sie in der Tat mein Schloß verlassen haben, um eine Botschaft zu überbringen, doch sagen Sie ihnen, daß ihr Empfänger nicht Don Demetrio ist, sondern, zum Beispiel, der Graf von W. »Wie«, mag dann der aufgeweckteste der Holzhauer argwöhnen, »liegt denn das Schloß des Grafen von W. nicht westlich von hier?« Verlieren Sie nicht die Fassung oder gar den Brief, Bautista. »So ist es«, erwidern Sie. »Das Schloß des Grafen von W. liegt jetzt zu unserer Linken. Und ein jeder, der mich auf diesem Weg sieht,
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