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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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gegenseitigen Betruges. Zudem, war es etwa nicht der Herr Marquis, der auf das Gepränge seines Jahrhunderts verzichtete? War nicht er es, der durch den Rüdezug in sein Schloß so vieler Heuchelei und Selbstsüchtigkeit den Rücken kehrte? Und hat er sich nicht eine Buße von zwanzig Jahren Einsamkeit auferlegt? Sie tun also sehr schlecht daran, Herr Graf, wenn Sie die Dinge so unbesonnen betrachten. Seien wir nicht zu oberflächlich. Anstatt seinen Brief mit einem mitleidigen Lächeln aufzunehmen, hätten Sie, so meine ich, vielmehr zu schätzen wissen sollen, was dieser Brief bedeutet. Sie mögen denken, daß ein Schreiben, das in der ehrlichen Absicht verfaßt wurde, nicht verstanden zu werden, ein absurdes Schreiben ist. Gehen wir der Sache jedoch etwas mehr auf den Grund. Wäre es ihm nur darum zu tun gewesen, einen unlesbaren Brief zu schreiben, dann hätte mein Herr ihn an jeden anderen Edelmann der Gegend schreiben können. Er hat ihn jedoch gerade an Sie gesandt. Und er hat seinen Namen auf den Umschlag geschrieben, damit Sie keinerlei Zweifel über die Identität des Absenders haben. Erscheint es Ihnen nicht bedeutsam, daß er bei seinem Entschluß, auf dem Postweg in sein Jahrhundert zurückzukehren, zuallererst an Sie und nicht an irgend jemand anderen gedacht hat? Erscheint Ihnen das nicht als ein rührendes Detail? Fühlen Sie sich nicht geehrt bei dem Gedanken, Empfänger eines verzweifelten Briefes zu sein? Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind ein Schiffbrüchiger, und es gelingt Ihnen, schwimmend eine kleine Insel zu erreichen. Die Jahre gehen dahin. Nicht ein Schiff am Horizont. In der bitteren Einsamkeit erlernen Sie die schwierige Liebe zu den Palmen und den Insekten, die im Dickicht zirpen. Ihr Geist reinigt sich. Da endlich, eines Morgens, sehen Sie in der Ferne den Umriß des rettenden Segelschiffes. Plötzlich fühlen Sie die ganze Erschütterung der Wiederbegegnung mit einer Welt, die Sie für immer verloren geglaubt hatten. Aufgewühlt durch diese Emotion, stürzen Sie dem Schiff entgegen, das zu Ihrer Rettung herbeieilt. Und nun frage ich Sie, Herr Graf: Wie würden Sie sich in einer solchen Situation verhalten? Würden Sie nicht alle gesellschaftlichen Etiketten und alle Höflichkeiten über Bord werfen? Könnte irgend jemand den langen Schrei kritisieren, der sich mit Sicherheit Ihrer Kehle entringen würde? Deshalb, Euer Hochwohlgeboren, meine ich, daß Sie noch heute meinem Herrn ebenfalls mit einem verzweifelten Brief antworten sollten. Sie und alle anderen, die einen Brief wie den erhalten können, den ich Ihnen soeben überreicht habe. Auf diese Weise wird sich die Verzweiflung in etwas Alltägliches verwandeln, in einen irrwitzigen Postverkehr. Weshalb mit frommen Lügen weitermachen? Schluß jetzt mit den Heucheleien, Don Demetrio! Schluß mit den barmherzigen Formeln! Ein Hoch dem Geschrei, dem Geheul, den brutalen Konsonantenhäufungen! Machen wir unsere Angst unmißverständlich deutlich. So lange, bis wir endlich das ganze Ausmaß unseres Unglücks begreifen können. Glauben Sie nicht, Herr Graf, daß aus so vielen absurden Briefen am Ende der erste Buchstabe eines neuen, prächtigen Alphabets entstehen könnte? Glauben Sie nicht, daß die Menschen, erschrocken über so viel unartikuliertes Geschrei, sich schließlich die Hände reichen würden? Meinen Sie nicht, daß sich zuguterletzt ein unangefochtenes Esperanto durchsetzen würde, mit dessen Hilfe wir uns mit allen verständigen könnten, ohne der Wörterbücher noch zu bedürfen? Ich will Ihnen mit alldem sagen, sehr verehrter Herr Graf, daß wir erst einmal die Natur und das Ausmaß unserer Krankheit kennen müssen, bevor wir uns die Medizin und die entsprechende Dosis verabreichen können. Wir müssen ein volles Bewußtsein davon haben, wie schlecht es uns geht. Wir müssen ein für allemal auf Trostpflaster verzichten. Weshalb denn die Agonie noch verlängern?« Verzeihen Sie meine Erregung, Bautista, aber ich sehe mich gerade an Ihrer Stelle, wie ich Don Demetrio meinen eigenen Brief übergebe und versuche, ihn davon zu überzeugen, daß Gott trotz allem gut ist und nicht alle Wege unserer Rettung völlig versperrt hat. Aber nein! Seien Sie unbesorgt, mein lieber Freund! Ich will Sie dieser Ehre nicht berauben! Sie werden es sein, der ihm den Brief überbringt. Das wäre ja noch schöner! Und ich versichere Ihnen, wenn Sie die Rede, die ich Ihnen gerade vorgeschlagen habe, so vor Don Demetrio wiederholen werden, dann
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