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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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sie sich bis zum Kannibalismus fortreißen läßt. Verwahren Sie sich jedoch dagegen, daß man sie als grausam oder heuchlerisch bezeichnet. Die Gottesanbeterin hat die Vorderbeine stets zu einer flehenden oder bittenden Gebärde gefaltet, aber nicht in der Absicht, irgend jemanden zu täuschen. Sie tut nichts anderes, als die Haltung einzunehmen, die ihr am wirkungsvollsten erscheint. Grausamkeit und Heuchelei sind Sache der Menschen. Es gibt jedoch Insekten, die man noch nicht einmal zu Unrecht anklagen darf. Da haben Sie, ohne daß wir erst lange suchen müßten, den Goliathkäfer, ein schrecklich anzusehendes Tierchen. Zwar besitzt er nicht die beeindruckenden Hörner des Nashornkäfers, aber an Körpermasse übertrifft er diesen noch. Wenn er seine schwarzen, dehnbaren Flügel entfaltet, ist seine Flügelspannweite größer als die manches Sperlings. Es handelt sich, wie Sie sehen können, um ein großes, stattliches Geschöpf, und doch läßt es sich zuweilen von sanften Negerkindern fangen, fliegt zahm im Kreis, festgebunden an der von ihnen gehaltenen Schnur, wie ein schwerfälliges, schnurrendes Karrussel . Sagen Sie mir, Bautista – oder vielmehr, sagen Sie mir, Herr Graf, wofern Sie Don Demetrio gegenüber dieses Beispiel zu erwähnen wünschen –, welcher Mensch in unserem Land wäre bereit, sich von einem Schwarm Zulukinder fangen zu lassen? Wer würde sich am Knöchel oder am Bein festbinden lassen und um diese kleinen ebenholzschwarzen Lausejungen herumfliegen? Es wird Ihnen letztlich nicht an Argumenten fehlen, Bautista, um den Herrn Grafen zu überzeugen. Da ist er also, das Kinn auf die Brust gesenkt, die Stirn gerunzelt, bereit, die Vernünftigkeit Ihrer Argumente anzuerkennen. Sehr schön. Stellen wir uns dieses glückliche Ende vor. »Gut«, sagt er nach einem tiefen Seufzer. »Da die Welt sich dem Betrug und der Unredlichkeit verschrieben hat, werde auch ich dorthin fliehen, wo ihre Falschheit mich nicht erreichen kann. Ich werde tun, was Ihr Herr vor zwanzig Jahren getan hat, denn er ist trotz allem immer ein kluger Mann gewesen.« Ist dieser Punkt erreicht, mein Freund, dann können wir Ihre Mission als erfüllt betrachten. Das Samenkorn ist jetzt gesät. Sie können Don Demetrio daher um Erlaubnis bitten, sich zu entfernen und mit der Nachricht meines Sieges hierher zurückkehren. Wahrscheinlicher ist indessen, daß der Herr Graf Ihnen noch nicht gestattet, sein Schloß zu verlassen. »Nein, gehen Sie noch nicht, guter Mann«, wird er Ihnen in diesem Fall sagen. »Bleiben Sie an meiner Seite, bis ich dem Herrn Marquis meine Antwort geschrieben habe. Denn auf der Stelle, ohne weiteren Verzug, werde ich Ihrem Herrn einen ebenso absurden Brief schreiben, wie er ihn mir gerade geschickt hat. Er soll wissen, daß er ab heute nicht mehr allein ist.« Das wär’s. Ende gut, alles gut. Stürmischer Beifall erklingt. Quälen wir uns nicht länger mit Gedanken an einen weniger glücklichen Ausgang. Morgen werde ich weitere närrische Briefe schreiben, und schließlich und endlich wird die Welt begreifen, daß der Schmerz allgemein ist und daß dringendere Maßnahmen geboten sind als eine einfache Verfassungsreform. Ein Teil dieses Erfolges wird Ihnen gebühren, Bautista. Bereiten Sie sich also jetzt vor, zum Schloß von Don Demetrio zu gehen, und möge Gott Ihnen beistehen. Fangen Sie das Paar Frösche, kleiden Sie sich grün, nehmen Sie den Regenschirm – ob es nun regnet oder nicht –, kommen Sie sodann zu mir, und ich werde Ihnen weitere Anweisungen geben. Sie müssen nämlich wissen, daß die Probleme sich nicht auf den Empfang beschränken, den der Herr Graf Ihnen bereiten kann. Wir haben noch andere Feinde. Leute, die weder Sie noch ich kennen, die jedoch keinesfalls zulassen werden, daß Sie einen Brief überbringen, der den Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters bedeuten kann. Was haben Sie jetzt, Bautista? Weshalb machen Sie so ein Gesicht? Haben Sie geglaubt, daß alle Schwierigkeiten sich auf Don Demetrio konzentrierten? Mitnichten, mein armer Freund. Sie werden noch andere Hindernisse überwinden müssen. Von hier bis zum Schloß von Don Demetrio sind es, wenn Sie gut ausschreiten, mehr als zwei Stunden. Ich sagte Ihnen bereits, daß Sie zwischen zwei Wegen wählen können, dem, der den Fluß auf der steinernen Brücke überquert, und dem, der durch das Ulmenwäldchen führt. Ich bat Sie, diesen zu nehmen, weil er durch die Mitte des Dorfes geht und es mich zweckmäßig dünkte, daß
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