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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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wird er allmählich zusammenschrumpfen und schließlich einen geistigen Kniefall vor Ihnen tun. Vielleicht wird er Ihnen am Ende sogar die Hände küssen, denn wir können niemals wissen, wozu ein Mensch fähig ist, wenn er auf einmal entdeckt, daß er nicht allein ist und es noch jemanden gibt, der denkt wie er. Problematisch kann es allerdings werden, wenn Don Demetrio sich einbildet, nicht allein zu sein. In diesem Fall, Bautista, wird er sich unseren sämtlichen Argumenten unzugänglich zeigen. »Weshalb sprechen Sie mir von Verzweiflung?«, wird er Sie mit hochgezogenen Augenbrauen fragen. Und vielleicht wird er Ihnen dann lachend sagen, daß er nicht verzweifelt ist, sondern sich vielmehr als sehr glücklich erachtet. »Nichts fehlt mir in dieser Welt«, wird er Ihnen erklären. »Meine Gesundheit ist ausgezeichnet, mein Vermögen unermeßlich, und obendrein habe ich das gewaltige Glück, mein Lager mit der zuvorkommendsten und liebenswertesten Ehefrau zu teilen. Nennt man das nicht Glück?« Oh Bautista! Wenn Don Demetrio die Dreistigkeit besitzt, dergleichen zu behaupten, gestatte ich Ihnen, daß Sie sich ostentativ in seiner Gegenwart bekreuzigen, wie eine alte Betschwester, wenn sie vom Teufel reden hört! »Sie und glücklich?«, erwidern Sie daraufhin mit heiserer Stimme, »Sie, der Sie trotz Ihrer vierzig Kilo Ihr ganzes Leben lang dicken, mütterlich aussehenden Frauen hinterhergelaufen sind, um die Verantwortungslosigkeit der verlorenen Kindheit wiederzufinden? Sie, der Sie Ihre obsessive Neigung für die Farbe Grün in alle Winde hinausposaunen, als gäbe es auf der Welt keine andere Farbe? Sie, der Sie sich damit brüsten, mit einem halben Dutzend Oliven über den Tag zu kommen? Kann ein Mensch sich als glücklich betrachten, der sich seit Jahren mit einer solchen Diät abplagt? Weist dieser sprichwörtliche Mangel an Appetit etwa nicht auf ein verborgenes Leiden Ihres Verdauungsapparates hin, auf einen erbarmungslosen Krebs zum Beispiel, der Sie ins Grab zu bringen vermag, bevor noch der Hahn kräht? Oh nein, mein Herr! Verzeihen Sie, wenn ich so offen spreche, aber Sie sind nicht glücklich, so sehr Sie es auch sein wollen.« An diesem Punkt angelangt, kreuzen Sie die Arme und umfassen Don Demetrio mit einem strengen Blick. Verharren Sie eine gute Weile in Schweigen, lassen Sie ihm Zeit, nachzudenken, und Sie werden erleben, wie dieser arme Mann erneut in Tränen ausbricht. »Sie haben recht«, wird er sodann zugeben. »Ich bin nicht glücklich. Ich war niemals glücklich. Es war anmaßend von mir zu behaupten, ich wäre es.« In diesem Augenblick, Bautista, müssen Sie schon Ihre unnachgiebige Haltung aufgeben. Nehmen Sie seine Entschuldigung an, und versuchen Sie, ihn zu trösten. Vergessen Sie, was ich Ihnen zuvor über die Wollust des Weinens sagte. Stärken Sie ihn mit einer Umarmung. »Ich gratuliere Ihnen, Herr Graf«, sagen Sie ihm, »ich gratuliere Ihnen, weil Sie Ihr Bewußtsein wiedergewonnen haben. Endlich erkennen Sie, daß Sie nicht glücklich sind und daß die Welt um Sie herum ein eitler Mummenschanz ist. Ö ffnen Sie jedoch jetzt Ihre Augen jener anderen Welt, die Sie bislang nicht wahrgenommen haben. Ich meine die Welt der Insekten, die sich mit der Ordnung und Präzision eines Planetensystems bewegt. Sie weisen uns den Weg zum Glück. Wissen Sie denn nicht, lieber Herr Graf, daß diese kleinen Geschöpfe meinem Herrn die unbeschreiblichsten Emotionen verschafft haben? Oh ja, Don Demetrio! Wenden auch Sie sich diesen winzigen Lebensformen zu! Nähern Sie sich diesen konsequenten Geschöpfen! Lernen Sie die Mannigfaltigkeit ihrer Formen zu schätzen und dringen Sie in das unwegsame Labyrinth ihrer Instinkte ein! Preisen Sie die Redlichkeit ihres Lebenswandels! Ich versichere Ihnen, daß Sie nach Vollendung Ihrer Lehrzeit in dieser zart vibrierenden Welt der Wahrheit sehr viel näher sein werden...« Nehmen wir jetzt einmal an, daß Don Demetrio, etwas beschämt ob seiner vorherigen Tränen, eine Entgegnung versucht. »Sie sprechen mir von der Ordnung und der Redlichkeit der Insekten«, erwidert er, während er die Augen mit dem Taschentuch trocknet, »was aber sagen Sie über ihre Grausamkeit?« Wenn der Herr Graf Ihnen diese Frage stellt, dann bringen Sie die Gottesanbeterin aufs Tapet, die als eines der grausamsten Insekten gilt. Räumen Sie ein, daß die Gottesanbeterin in der Tat ein Geschöpf mit recht verdächtigem Lebenswandel ist, mit einem unersättlichen Appetit, von dem
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