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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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S eien Sie unbesorgt, Bautista, und hören Sie auf zu zittern – sagte mir an jenem Morgen der Herr Marquis. Was ich Ihnen auftragen werde, ist einfach. Ich gehöre nicht zu denen, die Unmögliches verlangen. Sehen Sie diesen Brief hier. Dem Anschein nach ein Brief wie jeder andere. Für mich ist er jedoch von großer Wichtigkeit. Sie müssen ihn dem Herrn Grafen persönlich übergeben. Ich meine natürlich den Grafen von X, Don Demetrio Lopez del Costillar. Sie werden des öfteren von ihm gehört haben. Sein Schloß liegt auf der anderen Seite des Tales. Sie können zwischen zwei Wegen wählen, um dorthin zu gelangen. Einer von ihnen durchquert das Ulmenwäldchen und biegt in Höhe der Mühle zum Dorf ab. Der andere führt geradeaus weiter, überquert den Fluß auf der steinernen Brücke und schlängelt sich den Hügel hinauf. Dieser ist der kürzere, doch ziehe ich es vor, daß Sie den anderen nehmen. Sie nehmen also den anderen. Lassen Sie sich aber nicht von Ihren alten Kumpanen aufhalten, wenn Sie ins Dorf kommen. Und schicken Sie alle Klatschmäuler zum Teufel, die Ihnen begegnen. Gehen Sie entschlossen die Hauptstraße entlang, und nachdem Sie am Wohnsitz der Baronin von O. vorbeigegangen sind, biegen Sie in die erste Querstraße rechter Hand ein. Sie kennen den Palast der Baronin bereits: ein gewaltiges Steinhaus mit einem riesigen Wetterdach. Ich habe Sie vor kaum einem Monat dorthin geschickt, damit Sie sich nach dem Wohl meiner vortrefflichen Freundin nach ihrem letzten Abort erkundigen. Sie lassen also den Palast der Baronin hinter sich und gehen weiter, bis Sie zu dem steinernen Kreuz gelangen, das eine Wegkreuzung beschützt. Setzen Sie sich an den Fuß des Kreuzes, und wenden Sie sich nach Osten. Denken Sie daran, daß der Osten eben jener Ort ist, wo, zumindest bis zum heutigen Morgen, die Sonne aufgeht. Drehen Sie sich also ja nicht zur anderen Seite. Schärfen Sie Ihren Blick, und Sie werden genau gegenüber, am Abhang eines der Hügel, die das Tal an seiner östlichen Seite umschließen, das Schloß des Herrn Grafen erkennen können. Das wird nicht weiter schwer sein, denn es ist das einzige in dieser Gegend. Sie können es auch an der großen grünen Fahne erkennen, die stets am Hauptturm flattert. Schöpfen Sie sodann einen Moment Atem, und machen Sie sich wieder auf den Weg. Wenn Sie kräftig ausschreiten, werden Sie nicht mehr als eine Stunde benötigen, um an die erste Festungsmauer zu gelangen. Passieren Sie das äußere Tor, und folgen Sie dann dem gepflasterten Weg, der im Zickzackkurs durch den Garten führt. In wenigen Minuten werden Sie das Haupttor erreichen. Ein beeindruckendes Tor, ich sage es Ihnen schon jetzt. Ich erinnere mich, daß es mit Riegeln beschlagen ist und in mächtigen Angeln hängt. Zu meiner Zeit flößte es allen Besuchern ein unbestimmtes Gefühl des Schreckens ein. Setzen Sie sich über alle Ängste hinweg, und halten Sie sich an den Türklopfer. Klopfen Sie energisch, aber nicht dreist, und es wird nicht viel Zeit vergehen, bis man auf das Klopfen herbeigelaufen kommt. Ich weiß nicht, ob der Herr Graf während all dieser Zeit den Majordomus gewechselt hat. Vor zwanzig Jahren konnte er sich rühmen, über den finstersten Diener der ganzen Gegend zu verfügen. Ein Kerl mit unverschämtem Mundwerk und schleichendem Gang, der stets im Flüsterton sprach. Dieser Mann wird zu jener Zeit etwa sechzig Jahre alt gewesen sein, das bedeutet, daß er heute, wenn er noch lebt, um die achtzig sein müßte. Zu alt, um noch weiter im aktiven Dienst zu sein. Nun gut, der Diener mag sein, wer er will, sicher ist, daß man Ihnen das Tor geöffnet hat. Sie befinden sich bereits unter dem gotischen Gewölbe der Vorhalle. Nennen Sie den Namen des Herrn Grafen und warten Sie. Ein anderer Diener wird Sie sodann durch dunkle, komplizierte Gänge zum Kabinett von Don Demetrio führen. Ich sage Ihnen schon jetzt, daß der Weg lang sein wird. Sie werden Salons durchqueren, etliche Treppen hinabsteigen, andere wieder hinauf steigen, sich erst nach rechts, dann nach links wenden und etwa nach einer halben Stunde Fußmarsch ein kleines, von einigen Öllampen erhelltes Zimmer betreten, dessen Wände mit schönen chinesischen Paneelen verkleidet sind. Sie werden den Raum durch eine schmale Tür verlassen, die hinter einem Vorhang verborgen ist, durch weitere Korridore gehen, sich erneut bald nach rechts, bald nach links wenden und dabei womöglich zu begreifen beginnen, daß es niemals einfach
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