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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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fehlt die Ausdauer, den Schriftzug selbst der einfachsten Buchstaben richtig zu vollenden. Den Griff der Feder zu halten ist eine Aufgabe, die meine Kräfte übersteigt. Bevor ich mich vor ein weißes Blatt Papier setzte, mußte ich daher stets alle Geisteskräfte anspannen, sollten mir meine Briefe nicht zum Kauderwelsch geraten. In diesem Schreiben aber, Bautista, habe ich versucht, noch komplizierter zu sein. Ich habe besonders schlecht geschrieben, mit Vorbedacht und Hinterlist. Weshalb? Ganz einfach: ich sagte mir, als ich zu schreiben begann, daß es keinen Grund gäbe, dem Herrn Grafen das Vergnügen zu bereiten, meinen Brief ohne eine zusätzliche Anstrengung zu lesen. Zumindest war dies der Hauptgrund, weshalb ich meine Schrift noch unleserlicher machte. So habe ich zum Beispiel alle kopulativen Konjunktionen wie und, oder, auch nicht, einfach vergessen. Und die Umlaute haben nur noch einen Punkt statt der gewöhnlichen zwei und sind daher zum i geschrumpft. Schlimmer noch: der i-Punkt sitzt jedes Mal über dem unmittelbar folgenden oder vorangehenden Buchstaben. Und als wäre all dies noch nicht genug, lasse ich auch nicht den winzigsten Zwischenraum zwischen den Wörtern. Tatsächlich ist mein ganzer Brief ein einziges, unendlich langes Wort, das nichts bedeutet. Erscheint Ihnen das nicht genial, mein Freund? Auf! Sagen Sie etwas! Glauben Sie, daß der Herr Graf, so groß sein guter Wille auch sein mag, den Brief beim ersten Versuch wird lesen können? Selbstverständlich nicht. Um eine einzige Seite zu lesen, wird er mindestens ein paar Stunden benötigen. Es besteht sogar die Möglichkeit, daß er noch vor dem Ende die Geduld verliert. Und was geschieht, wenn er die Geduld verliert? Sie werden sich einigen Gefahren aussetzen, Bautista, ich will es Ihnen nicht verhehlen. Schließlich sind Sie es, der den Brief überbringt, und Don Demetrio ist ein jähzorniger Mensch. Außer sich, wird er Sie vielleicht mit seiner siebenschwänzigen Peitsche ins Gesicht schlagen. Oder aber er zieht es vor, Sie seinen Lakaien zu übergeben – wer weiß wie handfeste Kerle –, damit sie nach Herzenslust zulangen und Ihnen eine Tracht Prügel verabreichen. Jede dieser beiden Alternativen ist schlecht. Sie sehen also, wie wichtig es sein wird, die Frösche im passenden Moment freizulassen. Nicht vorher, nicht nachher, sondern im richtigen Augenblick. Genau dann, wenn Sie sehen, daß dem Herrn Grafen die Zornesröte ins Gesicht zu steigen beginnt. Wenn der arme Mann kurz vorm Explodieren ist, soll er sie auf einmal entdecken, wie sie anmutig auf dem Teppich umherhüpfen, grün auf grün. Vielleicht vergißt er dann seinen Verdruß und söhnt sich zuguterletzt mit allen Hieroglyphen der Welt aus. Denn Sie müssen wissen, Bautista, daß die Frösche – vor allem die grünen – obendrein Tiere mit langen, unglaublichen Traditionen sind. Gelegentlich treten sie dem Helden in den Weg und vertrauen ihm wundersame Geheimnisse an, die ein Königreich wert sind. Und wenn Don Demetrio nun glauben würde, daß diese Frösche auch für ihn ein Geheimnis haben, nämlich das Geheimnis, ihm seine verlorene Jugend zurückzubringen? Was gäbe ein Greis nicht darum, wenn er seine Jugend wiedergewönne? Wie kann man über einen unverständlichen Brief erzürnt sein, wenn man weiß, daß man von einem Augenblick zum anderen wieder der sein wird, der man einmal war?! Es gibt indes einen Umstand, unter dem Sie die Frösche auf gar keinen Fall freilassen dürfen. Und Sie, der Sie alles wissen wollen, werden sich fragen: Was ist dies für ein Umstand? Sehr einfach, lieber Bautista: Sie dürfen sie nicht freilassen, wenn der Herr Graf Sie im Beisein seiner Gattin, Dona Beatriz, empfangen hat. Oder wenn Dona Beatriz das Zimmer betritt, während Don Demetrio gerade versucht, den Brief zu lesen. Kurzum: Sie dürfen die Frösche nicht in Anwesenheit der Frau Gräfin freilassen, weil diese edle Dame sie nicht ertragen kann. Sie konnte sie schon nicht ertragen, als sie noch ein kleines Mädchen war, und ich glaube nicht, daß sie sich seither geändert hat. Was ist der Grund? Das ist schwer zu sagen, irgendein seltsamer freudscher Komplex. Sicher ist jedenfalls, daß diese Frau zu Tode erschrecken wird, sollte sie die Frösche auf einmal zu ihren Füßen erblicken. Und der Herr Graf liebt seine voluminöse Gattin trotz allem doch zu sehr, um zuzulassen, daß irgend jemand sie ungestraft ängstigt. Gehen Sie also vorsichtig zu Werke und behalten Sie
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