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Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)

Titel: Der Hirte, Teil 4 (Der Hirte - eine mittelalterliche Weihnachtsgeschichte) (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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    „Als kleines Mädchen war ich gut im Klettern“, sagte Schwester Venia. „Und erst recht im Laufen.“
    Sie hatte Rainald nicht angeboten, das halbe Dutzend Biss- und Kratzwunden zu verbinden, das seinen Körper überzog, und er hatte sie nicht darum gebeten. Er reinigte sie so gut er konnte mit Händen voll Schnee und war fast dankbar für die Kälte, weil sie das Brennen abstumpfte. Er hatte schon schlimmere Wunden empfangen, aber er hatte sie niemals in einem solchen Stadium körperlicher und seelischer Erschöpfung ertragen müssen. Der Schnee blieb in den Wunden liegen, schmolz zu roten Kristallen zusammen und stillte den Blutfluss.
    Blanka saß an den Obstbaum gelehnt und spielte mit den beiden Holzpuppen. Sie spielte stumm. Rainald vermied es, ihr dabei zuzusehen; ihr Verhalten ließ noch mehr Angst in ihm aufsteigen, als er ohnehin empfand. Er beugte sich ächzend nach vorn, um einen der Stoffstreifen aufzuheben, den er von seinem zerschlissenen Waffenrock geschnitten hatte. Schwester Venia folgte seiner Bewegung mit den Blicken. Sie machte keine Anstalten, den Streifen aufzuheben und ihm zu geben. Er war dankbar dafür. Wenn sie ihm den Streifen gegeben hätte, hätten ihre Hände sich berührt, und er wusste nicht, was er getan hätte, wenn das geschehen wäre. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, doch er nahm an, dass ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung gingen.
    „Was ist passiert, Rainald?“
    Er band den Stoffstreifen um die tiefste Wunde in seinem Oberschenkel. Er spürte bereits, wie das Bein steif wurde. Er rappelte sich aus der Sitzposition auf und stellte sich auf das Bein. Es wollte nachgeben, aber er zwang es dazu, standzuhalten. Wenn er es schonte, würde er es in ein paar Minuten nicht mehr gebrauchen könnte. Er machte einen Schritt nach vorn. Der Schmerz war auszuhalten. Er machte einen weiteren Schritt. Johannes zerrte den letzten Wolf, den, der sich vom Kampfplatz davongeschleppt hatte und dann verendet war, an den Hinterläufen durch den Schnee zu den anderen. Rainald ließ ihn gewähren. Er wusste, dass die Wölfe hierher nicht mehr zurückkommen würden; wozu auch, es gab noch tausend Plätze, an denen sie über sie herfallen konnten.
    Schwester Venia folgte ihm, bis er außer Hörweite Blankas war. Als Rainald stehenblieb und mit dem verletzten Bein verbissen aufstampfte, blieb sie neben ihm stehen und betrachtete ihn stumm.
    Rainald schnaubte. „Erinnert Ihr Euch daran, dass ich sagte, Gott solle sich raushalten? Was passierte, ist, dass er sich eingemischt hat.“
    Sie nickte. Rainald holte Atem. Plötzlich wusste er nicht, ob er imstande sein würde, die Geschichte zu erzählen, doch er wusste, dass er sie erzählen wollte .
    „Ich war auf der Jagd“, sagte er. „Halb zum Vergnügen, halb wegen des Essens. Der Winter hatte die Vorräte ausgedünnt, wir hatten kaum noch etwas in den Fässern, und meine Pächter ernährten sich schon wochenlang von den Rüben, die sie im Herbst im Sand verbuddelt hatten. Wir würden nur mageres Zeug fangen und vielleicht das eine oder andere Jungtier, das war mir klar, aber weiter zu hungern war keine Alternative, schon gar nicht für die Pächter … es gab Kinder, ein paar waren krank …“ Er merkte, dass er einmal mehr nach der Rechtfertigung griff, warum er nicht zu Hause auf seiner Burg gewesen war. Er hatte diese Rechtfertigung die ganzen Monate auch vor sich selbst rezitiert, ohne sie zu glauben.
    „Man kann nicht das Leben eines freien Mannes führen, ohne sich Feinde zu machen“, sagte er. Schwester Venia erwiderte nichts. Rainald fühlte sich hilflos. Wenn ihr ruhiger, nachdenklicher Blick nicht gewesen wäre … wenn sie nicht geschwiegen, sondern eine mitfühlende Bemerkung gemacht hätte … er hätte seine Erzählung abgebrochen. Doch sie musterte ihn nur, dunkle Augen und ein unter dem Gebende fast jugendlich wirkendes Gesicht, dem die Strapazen am wenigsten von ihnen allen anzusehen war, und er fühlte sich fast gezwungen, diesem Gesicht alles zu sagen, weil es bei aller Offenheit und aller Jugend manchmal so wirkte, als habe es schon den größten Schmerz gesehen, erlebt – und hinter sich gelassen.
    „Ich habe keine Fehden geführt“, sagte Rainald. „Aber ich habe auf etlichen Turnieren gewonnen. Nicht immer nimmt es ein Gegner sportlich auf, wenn er eine Menge Lösegeld für sein Pferd und seine Ausrüstung zahlen muss.“
    „Du weißt nicht, wer es war, oder?“
    „Sie müssen mich beobachtet
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