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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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freigelassen, dann sollen sie machen, wozu sie lustig sind. Sie mögen quaken bis sie platzen, aber lachen Sie nicht. Verharren Sie unerschütterlich auf Ihrem Posten. Verwandeln Sie sich in eine Art Ritterrüstung. Nur Mut! Fangen Sie wieder an zu zittern? Erscheint Ihnen das alles zu kompliziert? Fürchten Sie, daß Ihre Kräfte versagen könnten? Ich meine zu erraten, was Sie denken. Sie würden gerne den Inhalt des Briefes kennen, für den Fall, daß der Herr Graf Sie in seiner Verzweiflung an der Gurgel packt und Sie zwingt, ihn vorzulesen. Dieser Wunsch – ich sage es gleich – erscheint mir sehr vernünftig, denn das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann, ist zu sterben, ohne eine gültige Antwort gegeben zu haben. Wie soll ich Ihnen aber meinen Brief erklären, wenn ich selbst nicht genau weiß, was ich geschrieben habe? Wir wollen einmal sehen, lassen Sie mich nachdenken, erlauben Sie, daß ich mich besinne... Ach, Erinnerung, du grausame Feindin meines Glücks! Was habe ich dem Herrn Grafen geschrieben? Also ... Ich meine mich zu erinnern, daß ich mich in den ersten beiden Absätzen in allgemeinen Betrachtungen über die Gefahren ergehe, die Anregungsmittel wie Tabak, Alkohol und Kaffee für den menschlichen Organismus darstellen. Ich beschäftige mich auch mit den Risiken zu reichlichen Essens. Ich gebe zu, eine wenig übliche Einleitung für einen gewöhnlichen Brief, aber mir fiel für den Anfang nichts Besseres ein. Das Merkwürdige in diesem Fall ist, daß all diese Ermahnungen zudem völlig unangebracht sind. So mancher, der Don Demetrio gut kennt, könnte mich fragen, weshalb ich meine Zeit damit vergeude, einem Mann, der, von seiner Neigung für beleibte Frauen einmal abgesehen, in der ganzen Gegend für seine Genügsamkeit und seine guten Sitten bekannt war, mit derartigen Ratschlägen zu kommen. Denn der Herr Graf rauchte nicht, trank nicht und erlaubte sich kaum den Luxus des Essens. Er nahm gerade nur das Unerläßliche zu sich, um das Leben zu fristen. Zwar versäumte er nie ein Bankett, doch mit seiner widerwärtigen Genügsamkeit beleidigte er uns alle. Eine wahrhaft verwunderliche Haltung, die mir mit der Zeit sogar recht verdächtig erschien. Schließlich gelangte ich zu der Überzeugung, daß der Mann nicht so genügsam sein konnte, wie er uns glauben machen wollte. Ich stellte mir folgende Frage: Wer hatte Don Demetrio gesehen, wie er in seinen privaten Gemächern speiste, ohne andere Gesellschaft als die seiner Perserkatze? Es gibt ein Sprichwort – und verzeihen Sie mir, Bautista, wenn ich auf eine so triviale Form der Weisheit zurückgreife –, welches einiges Licht auf die Sache wirft: Wer nicht ißt, hat gehabt. Kurz und gut: heute mutmaße ich, daß der Herr Graf sich zu seinen öffentlichen Banketten mit vollem Magen eingefunden hat. Ich will gern zugeben, daß er nicht raucht und nicht trinkt, aber es kostet mich ungleich größere Mühe einzuräumen, daß ein Mensch mit ein paar Oliven, einem hartgekochten Ei und ein paar Fingerbreit Mineralwasser über den Tag kommen kann. Um so mehr, als ich weiß, daß Don Demetrio einer Familie von Vielfraßen entstammt. Bis vor kurzem war mir dieser Umstand gar nicht in den Sinn gekommen, doch eines Tages erinnerte ich mich auf einmal, daß die Eltern Don Demetrios einst bei einer Wette mit vereinten Kräften ein mittelgroßes Kalb, vier Hühner und dreißig Bananen vertilgt hatten. Wenn ich mir dieses familiäre Vorleben heute vor Augen halte, dann frage ich mich: kann ein Kind mit solcher Leichtigkeit die gastronomische Tradition seiner Erzeuger über Bord werfen? Erben wir denn von unseren Vätern nicht auch den Magen – oder zumindest eine bestimmte Magenveranlagung –, so wie wir ihnen auch im Blut und in der Art nachschlagen? Letzten Endes mögen meine Ratschläge also gar nicht so unangebracht sein, Bautista. Ich bin jetzt fast sicher, daß Don Demetrio hinter seiner genügsamen Fassade seit jeher geheime Laster verborgen hat. Dieser Spitzbube ist sicher ein sehr viel größerer Freund leiblicher Genüsse, als er uns glauben machen wollte. Aber ich will nicht, daß Sie denken, ich würde mir immer nur Wasser auf meine eigenen Mühlen gießen. Nehmen wir also an, daß der Herr Graf wirklich ein Mann ohne Appetit ist. Seine Mahlzeiten beschränken sich tatsächlich auf jenes Dutzend Sevillaner Oliven und das bewußte hartgekochte Ei. Es soll mir recht sein, seine Genügsamkeit ist seine Sache. Meine Empfehlungen werden
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