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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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Beute umklammert, könnte man ihrer häutigen Erweiterungen wegen für eine Orchidee halten. Können Sie sich so viel Schönheit vorstellen? Nun gut, reden wir nicht mehr davon. Nicht alles ist eitel Sonnenschein. Auch die Insekten haben ihre Zweifel und grüblerischen Gedanken. Eines Tages, während sie ihr Bild im Spiegel des Teiches betrachtete, wird die schöne Teufelsblume voller Verwirrung versucht haben, ihr wahres Wesen zu entdecken. Wer bin ich? fragte sie sich vielleicht. Und wenn ich nun nicht dieses grausame Insekt wäre, das ich zu sein glaube? Wenn ich nun wirklich eine Blume wäre? Ich möchte Ihnen damit sagen, Bautista, daß selbst die Insekten ihre Probleme haben können. Sogar Probleme der Einsamkeit. Nehmen Sie zum Beispiel die Glühwürmchen. Während des Tages sind sie prosaisch und unscheinbar. Nachts aber verwandeln sie sich in phantastische Fackelträger. Dann leuchtet ihr grünlich-kaltes Licht oder es blinkt, je nach dem Geschlecht, der Art und den Bedingungen der Umwelt. Erscheint Ihnen das nicht faszinierend? Versuchen Sie jetzt, sich die Szene vorzustellen. Das männliche Glühwürmchen fühlt sich allein. Es blinkt seine Liebesbotschaft, und zwei Sekunden später antwortet ihm das Weibchen. Wie eine Uhr. Auch sie verlangt es nach Gesellschaft. Sind die Anträge ihr wirklich willkommen, stellt sie die Antwort weder vor noch zurück. Wer wagt da noch zu behaupten, die armen Glühwürmchen hätten keine Probleme mit der Einsamkeit? Wäre dem nicht so, würden sie sich dann die Mühe machen, so viele Leuchtbotschaften miteinander auszutauschen? Das Traurige ist, Bautista, daß das Liebesgefunkel dieser Insekten sichere Ursache ihres Verderbens sein kann. Ringsherum um die Geliebte lauern kaltblütige Ungeheuer. Da ist zum Beispiel der Frosch, der Feind der Glühwürmchen. Er verschlingt sie zu Hunderten, und in warmen Sommernächten kann man ihn danach am Ufer des Tümpels leuchten sehen. Licht und Schönheit seiner Opfer überleben im Magen dieses Kretins. Begreifen Sie? Und jetzt kommt mir folgende Frage in den Sinn: angenommen, ich hätte gelegentlich ein Glühwürmchen sein können, wo würde ich dann heute meine verlorene Schönheit finden? In welchem Magen ruht das Licht, das mich einst unter allen Menschen auszeichnete? Aber ich entferne mich jetzt von dem, was uns einzig interessiert. Ich habe eine übermäßige Neigung zu Abschweifungen. Kehren wir also zu uns zurück. Ich sagte Ihnen schon, daß Sie während der ganzen Zeit, die Sie bei Don Demetrio sind, völlig unbeweglich verharren müssen. Ich will, daß er mich um einen so schweigsamen und geduldigen Diener beneidet. Zurückhaltung also, große Zurückhaltung. Beherrschen Sie Ihre Nerven. Seien Sie jedoch bereit, jederzeit irgendeinem unvorhergesehenen Ereignis zu trotzen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, daß die Frösche aus heiterem Himmel zu quaken beginnen. Was sollen Sie dann tun? Darauf kann ich Ihnen keine genaue Antwort geben, Bautista, aber ich werde Ihnen sagen, was Sie nicht tun dürfen: unter keinen Umständen dürfen Sie lachen, so spaßig Ihnen die Situation auch erscheinen mag. Die Frösche mögen quaken, was das Zeug hält, aber lachen Sie nicht, um Gottes willen. Ich sage Ihnen das zu Ihrem eigenen Wohl. Ein Lachen von Ihnen könnte sich unter solchen Umständen als höchst gefährlich erweisen. Es wäre so etwas wie eine Kriegserklärung. Es käme einer unerträglichen Dreistigkeit gleich, besonders nachdem Sie eine Tracht Prügel erhalten haben oder man Sie gezwungen hat, sich ein paar Briefbögen zu Gemüte zu führen. Wissen Sie denn nicht, Bautista, daß die Sieger nichts so sehr in Harnisch bringt wie die Feststellung, daß die Moral der Besiegten unversehrt ist? Ich werde ganz offen sein: wenn die Frösche zu quaken beginnen und Sie, ohne es verhindern zu können, in lautes Gelächter ausbrechen, könnte die Reaktion des Herrn Grafen wahrhaft gefährlich sein. Dann können wir uns auf das Schlimmste gefaßt machen. Er wäre womöglich imstande, Sie auf die Folterbank zu binden, die er gewiß noch immer in den Kellern seines Schlosses aufbewahrt, oder Sie unter die Sense zu legen, die nach Art eines Pendels von der Decke der Folterkammer herabhängt. Don Demetrio ist ein Trottel – das sagte ich Ihnen bereits –, doch letzten Endes ist er ein Edelmann von altem Geblüt und könnte niemals die Herausforderung durch eine Person niederen Standes dulden. Haben Sie die Frösche also erst einmal
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