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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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alle Sie mit meinem Brief in der Hand sähen. Das Schlimmste ist, daß die Feinde, die ich meine, Ihnen leicht im Schutz der Bäume eine Falle stellen können, wenn Sie an das Wäldchen kommen. Dies ist ohne Zweifel eine Gefahr, der Sie standhaft ins Auge schauen müssen. Sie fragen mich, was das für Feinde sind? Seien Sie doch nicht so naiv, Mann Gottes. Es sind die nämlichen wie eh und je. All die Fliegen, die seit Jahren auf dem Kadaver unseres Unglücks, auf der Traurigkeit unserer Einsamkeit leben. Die sich dabei gefallen, Gift in die Adern der Menschen zu träufeln, wie der Dichter sagt. Wo sie sind? Das werde ich Ihnen klar und deutlich sagen: sie sind überall. Buchstäblich. In allen Winkeln, selbst in den unverdächtigsten. Sie bilden, um uns herum, eine weitreichende Organisation. Sie belagern unsere Schlösser Tag und Nacht und verhindern, daß die geringste Liebesbotschaft hinein-oder hinausgelangt. Ein Grund mehr – als wären ihrer noch nicht genug –, um die Unverständlichkeit meines Briefes zu rechtfertigen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie fallen beim Verlassen des Schlosses diesen Gewissenlosen in die Hände. Sie durchsuchen Ihre Taschen und finden den Brief. Kann ich unter diesen Umständen das Risiko eingehen, ein Schreiben zu versenden, in dem meine Wünsche ohne Pein und Mühe gedeutet werden können, so leicht wie die Verse eines dichtenden Jünglings? Erscheint es Ihnen nicht logischer, sich mit Hieroglyphen zu behelfen? Ist es nicht besser, diese Kanaillen mit einem verschlüsselten Brief zu verwirren, in dem meine grenzenlose Liebe sich hinter scheinbarem Wahnsinn verborgen hält? Die Gefahren beginnen also, Bautista, sobald Sie aus dem Tor dieses Schlosses treten. Von hier bis zu Don Demetrios Festung werden es gute sieben oder acht Kilometer sein. Für einen Mann mit einem Bein, das kürzer als das andere ist – oder einem Bein, das länger als das andere ist, je nachdem, wie man es betrachtet – ist es keineswegs einfach, diese Entfernung zurückzulegen. Sie könnten diese Reise zu Pferde tun, doch wie Sie wissen, ist mein einziges Pferd vor einigen Jahren an purer Langeweile gestorben, von Sehnsucht nach fernen Horizonten verzehrt. Es wird also kein reiner Spaziergang werden. Der Weg, ich sage es Ihnen noch einmal, kann mehr als zwei Stunden dauern. Das bedeutet, wenn Sie sich um drei Uhr auf den Weg machen, dann können Sie schon um fünf Uhr im Schloß des Herrn Grafen sein. Aber was mögen Sie denken, wenn ich Sie jetzt schon vor den Gefahren dieser Reise warne? Ans Werk also, begeben wir uns an den Anfang. Es ist drei Uhr nachmittags. Sie sind bereits grün gekleidet, haben die Frösche in der Tasche, und der Regenschirm baumelt an Ihrem linken Unterarm. Sie brennen vor Ungeduld, in Aktion zu treten. Sie erhalten meinen Segen – denn Sie sollen wissen, daß ich bereit bin, Ihnen meinen Segen zu erteilen – und schicken sich an, aufzubrechen. Schon beginnen die Gefahren. Zunächst einmal dürfen Sie das Schloß nicht ohne Sinn und Verstand verlassen, würden Sie sich damit doch der Gefahr aussetzen, überrumpelt zu werden, kaum daß Sie die Zugbrücke überquert haben. Sie müssen zunächst das Panorama ausspähen. Steigen Sie auf den Außenturm – oder besser noch auf den Hauptturm – und kundschaften Sie die Umgebung aus. Vergewissern Sie sich, daß im Umkreis von einigen Kilometern keine Leute lagern. Steigen Sie dann in den Hof hinab und, auf dem Rundweg, den Nebenturm hinauf. Oben angelangt, widmen Sie besondere Aufmerksamkeit dem Ulmenwäldchen, wo diese Gewissenlosen auf der Lauer liegen können. Passieren Sie dann, am Eckturm, das Fallgatter, gehen Sie die zinnenbewehrte Rampe hinunter, umgehen Sie heimlich das Vorwerk und treten Sie schließlich durch das Turniertor nach draußen. Was erwartet Sie dann, kaum daß Sie sich vom Schatten unserer Zinnen entfernt haben? Ein wunderschöner Weg, der Sie ohne Schwierigkeiten ins Dorf führen dürfte. Ein Weg durch herrliche Weinberge, wie geschaffen für idyllische Landausflüge. Untersuchen wir diesen Weg jedoch näher, lassen wir uns nicht durch den Schein täuschen. Die ersten beiden Kilometer führt er durch flaches Land. Auf dieser Wegstrecke werden Sie leicht sehen können, ob sich Ihnen irgendein Unbekannter nähert, denn wenn jemand dies versucht, muß er es ohne Deckung tun, und Sie haben Zeit genug, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Wenn sich Ihnen also jemand nähert, zeigen Sie keine Furcht. Nehmen Sie
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