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Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief

Titel: Der Marquis schreibt einen unerhörten Brief
Autoren: Javier Tomeo
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könnte meinen, ich begäbe mich zum Schloß von Don Demetrio, ein Edelmann, für den mein Herr sich nicht im geringsten interessiert. Ich versichere Ihnen jedoch, daß ich, in Höhe des Friedhofs angekommen – nachdem ich durch das Dorf gegangen bin –, dem Weg der Zypressen folgen werde, der zu meinem eigentlichen Ziel führt.« Nach diesen Ausführungen wäre es, um die Sache abzurunden, zweckmäßig, Sie gäben irgendein Sprichwort oder irgendeine Volksweisheit von sich, die diesen Männern zeigen würde, daß Sie letztlich zur gleichen Gesellschaftsschicht gehören wie sie. Sagen Sie ihnen zum Beispiel, gleichsam als Postskriptum: »Sie wissen ja! Mit Brot und Wein geht der Weg von allein!« Oder: »Sie wissen ja! Auf Schusters Rappen, ja, da geht es, und geht’s nicht weiter, dann per pedes!« Damit beziehen Sie sich natürlich auf den großen Umweg, den Sie machen müssen, um zum Schloß des Grafen von W. zu gelangen. Ich lege Ihnen deshalb nahe, Sprichwörter zu Hilfe zu nehmen, weil ich überzeugt bin, Bautista, daß Sie das Vertrauen dieser Leute leichter gewinnen können, wenn Sie eine gewisse plebejische Bildung zur Schau tragen. Das heißt, es kostet Sie geringere Mühe, sie zu überzeugen, daß Sie zum gleichen Stamm gehören, ungeachtet dessen, was diese Männer anfänglich gedacht haben mochten. Sind sie erst einmal davon überzeugt, dann werden sie alles, was Sie ihnen sagen, felsenfest glauben. Sie werden nicht mehr argwöhnisch sein. »Wie sollten wir nicht glauben, was uns dieser Kamerad sagt«, würden sie einem entgegnen, der Ihre Erklärungen in Abrede stellen wollte. »Welches Interesse kann er daran haben, uns zu belügen? Steht nicht auch er unter der Fuchtel eines Großgrundbesitzers?« Gewinnen Sie also das Vertrauen dieser Männer. Ich möchte nicht, daß sie auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen beginnen, sobald sie allein sind und mit dem Faden dann das Knäuel aufwickeln. Ein bißchen Demagogie schadet nicht, wenn man hier auch sagt, daß Demagogie die Heuchelei der Macht sei. Geben Sie also alle Sprichwörter von sich, die Ihnen einfallen, ob sie nun passen oder nicht. »Meine Freunde«, können Sie ihnen sagen, schon im Begriff, den Weg fortzusetzen, »man kann nicht auf zwei Hochzeiten tanzen.« (Da haben Sie schon das erste Sprichwort.) »Ich will damit sagen, daß ich sehr gerne bis zum Anbruch der Nacht bei Ihnen bleiben würde, doch erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« (Zweites Sprichwort.) »Es ist Zeit, daß ich meinen Weg zum Schloß des Grafen von W. fortsetze, denn Morgenstunde hat Gold im Munde.« (Drittes Sprichwort). Wenn Sie diese Sprüche mit natürlicher Ungezwungenheit von sich geben, werden Sie die Holzhauer in vortreffliche Freunde verwandelt haben, bereit, jedem, der sie danach fragt, zu schwören, daß der Graf von W. der einzige und wahre Empfänger meines Briefes ist. Sie werden beiseitetreten und Sie ziehen lassen. Ich sehe sie vor mir, wie sie die Baskenmützen abnehmen und zum Abschied fröhlich in der Luft schwenken. Das wäre ein schönes Ende. Stellen Sie sich jetzt aber vor, diese Holzhauer sind in Wirklichkeit gar keine Holzhauer, sondern vielmehr ruchlose Schurken, die im Sold unserer Feinde stehen. Sie haben auf der Waldlichtung auf Sie gewartet und währenddessen ihre Messer an einem Stein geschärft. Sie kommen auf Sie zu, umzingeln Sie und ziehen die Messer aus dem Gürtel. »Los, los! Geben Sie den Brief her oder ich schneide Ihnen die Kehle durch! « droht Ihnen der Anführer der Rotte. Er sagt das nicht nur so, er ist bereit, Sie abzumurksen. Natürlich wären Sie nicht sein erstes Opfer, denn diese Männer wurden in der Gewalt geboren, leben in der Gewalt und denken, daß es immer Gründe gibt, ihresgleichen umzubringen. Fangen Sie nicht schon wieder zu zittern an, Bautista, denken Sie einen Augenblick nach. Was würden Sie in einem solchen Fall tun? Ich sage es Ihnen gleich: verzichten Sie auf jede Heldentat und übergeben Sie ihnen den Brief. Rechtfertigen Sie sich indes mit einer langen Tirade. »Also gut, meine Herren«, sagen Sie ihnen. »Hier haben Sie den Brief meines Herrn. Ein Brief, von dem ich nicht ein einziges Wort verstehe. Und ich bin nicht bereit, mein Leben für etwas aufs Spiel zu setzen, das ich nicht kenne. Sie müssen nämlich wissen – und Sie können das sofort feststellen – , daß dieser Brief völlig unverständlich ist. Mein Herr war so grausam, ihn mir von A bis Z vorzulesen, bevor er ihn mir übergab,
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