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206 - Unterirdisch

206 - Unterirdisch

Titel: 206 - Unterirdisch
Autoren: Mia Zorn und Jo Zybell
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Er kniff die Lider zusammen und sah trotzdem: Strudel aus violetten und roten Schlieren. Wirbelten sie in seinem Schädel?
    Gab ein gehässiger Dämon ihm Trugbilder ein? Er riss die Augen wieder auf, versuchte sich zu bewegen, vergeblich: Die Staubfäden hielten ihn fest.
    Ein Albtraum womöglich? Gewiss, ein Albtraum! So musste es sein!
    Auf einmal vermochte er sich vorzustellen, ein kranker Gigant hätte ihn eingeatmet, und er musste nun durch verschleimte und verkrebste Atemwege kriechen. Denn so sahen die Wände des vermeintlichen Höhlensystems an vielen Stellen aus: die feuchten Ausstülpungen, die bebenden Wölbungen, die zitternden Lappen; wie bösartige Wucherungen.
    Und dann diese grauen, schleimhäutigen Säcke, die dort oben von einer zitternden Decke hingen – reiften darin nicht neue Kreaturen heran? Im erlöschenden Geisteslicht seines Bewusstseins fasste er einen dieser Schleimbeutel näher ins Auge, einen, der schon fast bis zum Boden reichte. Etwas bebte darin, etwas atmete, strampelte. Wuchs darin nicht eine böse, gefräßige Kreatur, die jeden Moment schlüpfen konnte?
    Er kämpfte gegen den schweren Nebel an, der sein Bewusstsein zu ersticken drohte. Er wollte es sehen, das neue Wesen. Er wollte…
    Schmatzend öffnete sich ein Seitengang, höher als ein Mann. Ein spitzes Maul öffnete sich, schwarze Kauzangen in einem Schädel wurden sichtbar, der ohne Hals in einen walzenförmigen Körper überging. Eines der Ungeheuer – er hatte den Namen vergessen –, das hier unten lebte. Warum nur konnte kein Gedanke in seinem Hirn mehr den Namen der Ungeheuer formen? Es dehnte sich, es streckte sich, kroch aus der Seitenkaverne auf ihn zu.
    Und dann platzte der große, von der lebendigen Decke hängende Schleimsack. Ein Wesen kippte heraus, dunkel, riesig, vier Beine, mit großem Schweif, wuchtigem Schädel und spitzer Schnauze. Und was war das? Trogen ihn seine Sinne, oder hatte es wirklich ein doppelreihiges Gebiss?
    Die Gestalt verschwamm vor seinen Augen. Wieder kniff er die Lider zusammen, und als er sie zum letzten Mal auseinander riss, sah er, wie sich das neue Wesen auf den Hinterläufen aufrichte. Wie ein gigantisches Fischmaul öffnete sich die atmende Decke über ihm, und das neue Wesen schlüpfte nach draußen.
    Dann war das Ungeheuer aus dem Seitengang über ihm. Es öffnete sein Maul noch weiter, riss die Beißscheren auseinander und packte seinen Kopf. Den Schmerz spürte er schon nicht mehr, das Splittern seines Schädelknochens hörte er nicht mehr. Sein Leben erlosch, wie schon so viele Zehntausende Leben hier unten erloschen waren.
    ***
    Das Aberdaregebirge lag im blauen Licht des anbrechenden Tages. Über die weite Ebene seines Hochlandes strich ein kalter Wind. Kaffernadler stiegen auf. Mit heiseren Schreien näherten sie sich dem Bergwald im Norden der Ebene. Einen Steinwurf davor hielten sie in ihrem Flug inne. Sie breiteten ihre Schwingen aus und umkreisten die Ruine des Timtow.
    Wie eine Steinsäule ragte das Gemäuer aus den Flechten und Lianen des Dschungelrandes. Es wimmelte hier von Klippdachsen und anderen Leckereien für die großen Raubvögel. Aber heute hielten sich die Beutetiere verborgen: Menschen waren in den Turm gestiegen. Die scharfen Augen der Adler fixierten die beiden Gestalten auf der Zinne.
    Eine große Frau, deren graues Haar mit Fischknochen hochgesteckt war, blickte zu ihnen hinauf. Sie trug einen knöchellangen Umhang aus lachsroten Flamingofedern. Neben ihr bewegte sich eine andere Frau in einem blauen Kapuzengewand. Es waren die Priesterin Arah und eine ihrer Novizinnen, die am Morgen vor der zwölften Halbmondnacht des Jahres auf den Turm der Göttin Athikaya gestiegen waren, um den Fruchtbarkeitssegen für Nyaroby zu erbitten.
    Aber das interessierte die Kaffernadler nicht. Sie quälte der Hunger, und solange die Menschen auf dem Turm waren, hatten die Raubvögel geringe Chancen auf Beute. So kehrten sie der Ruine den Rücken und flogen weiter landeinwärts.
    Arah schaute ihnen lange nach. Mit welcher Eleganz diese riesigen Vögel den Himmel durchquerten! Sie wäre gerne mit ihnen geflogen. Aber ihre Zeit war noch nicht gekommen.
    Wieder tasteten ihre Finger nach dem Geschwür an ihrer Brust.
    Es war inzwischen so groß wie das Ei einer Gans. Die Heiler konnten nichts mehr für sie tun: Längst wucherten entartete Zellen in den Lymphknoten unter ihren Achseln, und auch in ihrem Kopf hatten sie sich ausgebreitet.
    »Es ist so weit, Herrin!« Die
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