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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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auch das keinen Sinn mehr. Allein das Hineinschieben in die Tasche geriet zur Tortur für den schmerzempfindlichen Hund. Immer wieder dachte er über den Tierarzt und die Spritze nach. Aber es schien ihm, dass das nicht zu ihm gepasst hätte. Er hatte ihn nicht behandelt, um der Natur ihren Lauf zu lassen. Das musste auch jetzt gelten. Der Tod würde bald kommen, und Schmidt würde bis zuletzt bei seinem Hund sein.
    Schmidt konnte nicht mehr schlafen. Er lag Stunden wach im Bett und war er einmal eingeschlafen, schreckte er plötzlich in tiefer Nacht auf. Alpträume verfolgten ihn. Dann lief er in der Wohnung auf und ab, gefangen in seinem sorgsam aufgebauten Schutzraum. Nur das röchelnde Atmen des Hundes begleitete seine ruhelosen Nächte.
    Einer plötzlichen Eingebung folgend suchte er das Roulettespiel wieder heraus, das seit frühen Ehejahren ungenutzt im Spieleschrank vergammelte. Er breitete das Filztuch mit den Zahlenfeldern auf seinem Schreibtisch aus. Beschwert mit Gesetzeskompendien, um die in Jahren erstarrten Falten zu glätten. Er gab sich Jetons und legte sie auf die bevorzugten Zahlenfeldkreuzungen.
    Die Befriedigung lag dann im Drehen des Kreuzes, um die Platte mit dem Zahlenkranz zu beschleunigen, und dem Schnippen der schweren silbernen Kugel gegen die Laufrichtung der sich ebenfalls drehenden Zahlenplattform. Wie leicht und ungehindert sich die beweglich gelagerte Platte auf dem Dorn bewegte! Dann neigte sich die Kreisbewegung der Kugel im abfallenden Rund, bis sie auf die sich gegendrehende Platte fiel. Sie fand sofort ihre Zahlenmulde oder hüpfte, bevor sie sich entschied. Eine Zahl aus 36 und 0, unbeirrbar ausgewählt als Ruheort der Kugel, während die Platte sich weiter drehte. Unmerklich langsam werdend. Es war ein Moment des Schreckens und der Genugtuung, wenn die Möglichkeit zu einer einzigen Gewissheit erstarrte.
    Schmidt ließ die lautlose Kreiselbewegung auslaufen, endlos lang, während er die Zahl in einer Kolonne notierte. Das so viele Jahre alte Spiel war von wertvoller Machart, die Scheibe schwer und doch so frei gelagert auf dem Teller, glänzend wie die Armaturen eines edlen alten Holzbootes. Holz, Metall, Bakelit, ein Meisterstück. Ohne Unwucht, so dass das Schicksal sich lange in seiner Kreisbewegung unentschieden geben konnte, bevor es mit einem Klacken der Kugel Gestalt annahm.
    Schmidt hörte Sibelius dazu, die Symphonien beruhigten ihn. Sie glitten dahin ohne eine Zuspitzung und ohne eine Entscheidung. Wie ein Schlitten in heller verschneiter Winterlandschaft, das Land flach und still, kein Ton, allenfalls ein in allen Dingen widerhallender Klang. So fühlte es sich an, wenn er, hatte die Kugel ihre Wahl getroffen, die Augen schloss, um nur noch der Musik zuzuhören. Manchmal tobte ihm dann Shiva durch den Schnee entgegen, begeistert in seinem Lieblingselement. Dann riss Schmidt die Augen auf und fixierte irritiert den auslaufenden Teller.
    Seine Zahlenkolonnen wurden im Laufe der Nacht länger. Er betrachtete sie nachdenklich. Wiesen sie eine Zahlentendenz auf im Wiederkehren bestimmter Zahlen oder einer Kombination, eben jenes Muster, nach dem die Berufsspieler suchen, so verfiel er in Unruhe und Bedrängnis. Folgten die Zahlen eine Nacht lang keinem vermeintlichen Schema, waren sie ihrer Abfolge nach vollkommen ungeordnet, so fühlte er Befreiung und Erleichterung. Nichts sollte so sein müssen, dachte er. Und nichts sich erklären lassen. Wie die häufige Erscheinung der Null, der japanischen Todeszahl. Wahrscheinlich kam sie tatsächlich gar nicht häufiger vor, dachte er. Sie war nur auffälliger. Grüne Nichtzahl, Schrecken des ganzen Spiels, Schicksalskönigin. Sie war wichtiger und mächtiger als alle anderen Zahlen. Schmidt versuchte, neutral zu sein als Diener des Schicksals. Es geschah, und er war der Chronist für die Kugel.
    In diesen Tagen erreichte ihn ein Brief von Tomas´, den die Graseder ihm ungeöffnet hingelegt hatte. Er betrachtete den Umschlag, die kleine Schrift mit den steilen Buchstaben und wog ihn in der Hand. Schwer, mehrere Blätter mussten es sein. Schmidt dachte an die Briefe zwischen Wimmers Mutter und ihrer Haushälterin. Lang, wortreich und in der Wirkung unauslöschlich. Briefe wurden geschrieben, um das Gesagte dem Vergessen zu entreißen und für immer zu bewahren. Wie ein Fluch, eine Weissagung, ein Gelübde. Sie entfalteten ihre Kraft oft nicht beim ersten Lesen, sondern durch die Zeit, die die Sätze mit neuem Sinn auflud. Für
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