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Der Mantel - Roman

Der Mantel - Roman

Titel: Der Mantel - Roman
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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er vor Scham über den feigen Satz. Rausgerutscht? Nichts war ihm rausgerutscht. Seine Mutter hatte die absurde Situation hergestellt, ihn ohne Vorwarnung in ein gesellschaftliches Ereignis mit dem Mann gelockt, der Grund für eine Entwurzelung nie gekannten Ausmaßes war. Sein leiblicher, während eines Leichenmahls aus dem Hut gezogener Vater. Seine Mutter hatte wirklich ein Talent für absurde Inszenierungen. Hatte es wohl in Jahrzehnten der Begegnung mit den dramatischen Künsten gelernt. Das wäre weiter nicht schlimm, wenn sie ihn nicht als wehrlos überrumpelten Hauptdarsteller für ihre Aufführungen ausgewählt hätte. Sie beobachtete ihn scharf, sah den Schweiß auf seiner Stirn. »Schon gut. Nur, du bemerkst sicher, dass ich mich bemühe, unsere Familie so zusammenzufügen, wie sie heute nun mal ist. Darum täte es mir sehr weh, wenn du jetzt Distanz zu mir herstellen wolltest.«
    Schmidt fühlte, wie die Augen seiner Mutter und seines Vaters ihn abtasteten. Als wollten sie die Schweißperlen auf seiner Stirn abtupfen. Die wuchsen jedoch zusehends, verbanden sich und bildeten kleine Rinnsale, die sich ihren Weg über seine Schläfen und in die Augenbrauen suchten. Er war in die Enge getrieben. Das Taschentuch, das er in fahrigen Bewegungen über sein rotes pochendes Gesicht wischte, kühlte angenehm. Die Decke so niedrig, zu viele Menschen auf engstem Raum. Schmidt kämpfte mit einer Panik. »Mama, ich kann mit all dem nichts anfangen. Familie, Distanz – alles nur Wörter. Du kannst doch nicht so viele Geschehnisse aus Jahrzehnten einfach in einer neuen Komposition abfackeln.«
    Er hielt inne, da seine unterdrückt herausgeschleuderten Sätze das beliebige Gelächter im Opernkeller übertönt hatten. Die Umstehenden schauten sich nach ihm um, für einen Moment hatte sein Ausbruch die festliche Stimmung verscheucht. Seine Mutter war erschrocken, unfähig zu reagieren. Tomas´ versuchte, die Situation zu entkrampfen. »Ich verstehe deine Reaktion. Aber ich habe mich nie in dein oder euer Leben gedrängt. Du hattest eine intakte Familie. Wenn jemand dabei gelitten hat, dann wohl ich. Und auf andere Weise deine Mutter. Sei nicht zu selbstgerecht. Ich werde meine Gefühle und Gedanken schriftlich dir gegenüber äußern. Dann kannst du werten, was du wem vorzuwerfen hast. Oder eben auch nicht.« Schmidt fühlte keine Neugier auf eine schriftliche Erklärung dessen, was er in den Grundzügen kannte. Er nickte vage und leerte sein Glas, um sich zu beruhigen. Der erste Gong, seine Mutter sagte: »Lasst uns gehen, aber ihr müsst da vorn kurz auf mich warten.« Sie drängten sich durch die ausgelassene Menschentraube. Vor der Damentoilette blieben die beiden Männer stehen. Tomas´ fragte: »Meinst du nicht, wir sollten einmal einen Abend haben, wie du ihn mit Regine verbracht hast? Wo alles zur Sprache kommt. Wo du deine Zweifel an mir äußern kannst und ich mich erkläre?«
    Schmidt erwiderte den Blick nicht, sondern ließ die Augen auf den zu den Plätzen Strömenden ruhen. »Weißt du, wie viele Jahre es für diese Aussprache zwischen meiner Mutter und mir gebraucht hat?«
    Tomas´ murmelte betrübt: »Verstehe. Ja, irgendwann halt.«
    »Entschuldige mich für einen Moment.« Schmidt stürzte davon, suchte die Herrentoilette. Eine Treppe, er rempelte ihm Entgegengehende an. Auf der Toilette richteten viele ältere Männer ihre Anzüge wieder nach beschwerlicher Verrichtung, wuschen mit erwartungslosem Blick in den Spiegel ihre Hände. Schmidt fand ein freies Waschbecken und schöpfte kaltes Wasser, das er sich förmlich ins Gesicht warf. Es tat ihm gut. Er spürte, er war auf dem Gipfel einer hysterischen Woge. Er musste verhindern, dass sie ihn noch an diesem Abend unter sich begrub.
    Er richtete sich auf, sah in das runde rote Gesicht, die stieren Augen in ihrem roten Hof. Hoffentlich schaffte er es bis zum Ende der Aufführung. Er wollte seine Mutter nicht zu sehr enttäuschen. Sie hatte diese quälende Begegnung gutgemeint.
    Der zweite Gong war verklungen. Schmidt hastete nach oben, wo die beiden leise miteinander sprechend standen. »Sorry«, murmelte er, und sie betraten wieder den prächtigen Opernsaal.
    Schmidt verfolgte den zweiten Akt mit Mühe. Zu viele Gedanken zerrten an seiner Aufmerksamkeit. Da war Lenskis Enttäuschung über den kalten Freund und seine Verlobte, die ihn verriet. Bis er den hilflosesten aller Auswege suchte und im Duell starb. Schmidt dachte an den Abend mit seiner Mutter.
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