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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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unterhalten, mir Essen hinstellen und sich nicht wundern, wenn ich mich später zurückzöge und mir mein Bett auf einem Sofa zubereiten würde.
    Je älter ich werde, umso häufiger flackern kleine Erinnerungen auf, Momente, wie man sie beim Hören vertrauter alter Lieder hat, die mir klarmachen, was für immer verloren ist. Im Regen hatte ich gestanden, vor dem Haus eines Jungen, der mit einer Freundin in seinem Bett lag, aber das wusste ich nicht, ich war sechzehn und unsterblich. Nie mehr die Aufregung jugendlicher Leidenschaft, da man glaubt, besonders zu sein und alles anders zu machen als all die anderen. Nie würde man aufhören, miteinander zu reden, nie sich nicht berühren und unendlich fühlen. Denkt man und vergisst es doch, wenn man sich trennt, nebeneinandersteht, als hätte man sich nie gesehen, noch nicht wissend, dass bereits die nächste Liebe nur noch ein Schatten der ersten sein wird. Gelingt es einem nicht, die Erregung durch ein anderes Gefühl zu ersetzen, wird man von nun an auf der Jagd sein.
    Meine erste Reise nach Paris fällt mir ein, auch im Regen. In einem Auto übernachten, morgens warten, bis das erste Café öffnet, und wissen, das blödsinnige Croissant ist das Einzige, was man essen wird die nächsten zwanzig Stunden. Es war so anstrengend, unbequem, ungeschützt, aber dieses Staunen wird es nie mehr geben. Die Sonne auf der Seine und die Läden, all die teuren Läden, und die wunderbaren Wohnungen, von denen man wusste, dass man sie noch nicht betreten, noch nicht besitzen kann, aber später, später würde es sich fügen. Die Zeit nach der Jugend verbringt man in der Hoffnung, dass sich die starken Gefühle wiederholen, und man versucht Geld zu machen und sich die Erregung zu kaufen, und irgendwann noch nicht einmal das mehr, denn zu deutlich ist der Ersatzgeschmack. Das Geld für die Wohnung an der Seine ist ausgeblieben. Die Erregung auch.
    Die chinesische Familie sitzt vor dem Fernseher, und ich erinnere mich mit Zuneigung an dieses freundlich plappernde Medium.
    An Momente großer Zufriedenheit, wenn der Fernseher lief, wenn ich las oder arbeitete und den Mann im Nebenzimmer wusste. Jetzt wurden von Großmutter Nüsse gebracht oder etwas Chinesisches, das ich für Nüsse halte und was vielleicht Käfer sind. Und nun verlasse ich die Familie in der Küche. Sie werden mich nicht vermissen. Ich werde sie vergessen. Auf meinem langen, sinnlosen Spaziergang durch den Tag.

Damals.
Vor vier Jahren.
    Von meinen geringfügigen sozialen Verhaltensstörungen abgesehen, versuchte ich das Leben eines leisen Menschen zu führen, der sich in karierte Kaschmirdecken drapiert und in reizenden Bibliotheken aufhält.
    Es war mir gelungen, mein Geld ohne große Verrenkungen mit einer begrenzten Selbständigkeit zu verdienen, die mich nicht von der direkten Willkür anderer Dummköpfe abhängig machte und es mir erlaubte, das Haus nicht zu verlassen. Ich war nicht überbordend intelligent, was mich mitunter mit leiser, resignierter Traurigkeit erfüllte. Der zunehmende Ekel, den ich den meisten Menschen entgegenbrachte: den anderen, den Schafen, den Nachbarn, den Bürgern, den Sozialdemokraten, den Nazis, machte mich noch mehr zum Teil einer großen Masse, denn es handelt sich um ein sehr verbreitetes Phänomen.
    Normal auch, dass ich mit zunehmendem Alter immer seltener auf Menschen traf, die mich nicht mit ihrer Humorlosigkeit langweilten.
    Mein Bekanntenkreis hatte sich, außer durch das gewöhnliche Bekanntenkreissterben, auch durch den Umstand auffallend verkleinert, dass es mir kaum mehr gelang, irgendetwas ernst zu nehmen. Traf ich auf eitle Menschen, und das waren nicht wenige, schaute ich sie mit offenem Munde an, lauschte scheinbar den Ausführungen über ihre eigene Wichtigkeit, das neue Buch, den neuen Film, die neue Forschungsarbeit,die neue Philosophie, den Dreißigjährigen Krieg, die Reinkarnation von Energiefeldern, bis mir Speichel aus dem Mund floss und ich meine Augen wie bei schlechten Darbietungen epileptischer Anfälle zu verdrehen begann.
    Es gab Leute, die glaubten, wenn sie nur genug über das Universum nachdächten, würde das auch umgekehrt funktionieren.
    Ich versuchte nachhaltig milde zu sein, denn auch an mir bemerkte ich zunehmende Zeichen von Altersverwirrung. Immer öfter hatte ich das Gefühl, dass die Welt mit allem, was sich auf ihr bewegte, einschließlich des Wetters, gegen mich sei. Dabei war mir in lichten Momenten klar, dass ich der Welt schlicht egal
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