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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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mit ihr das Scheitern aller Pläne.«
    »Ja«, sagte ich, »das kenne ich«, doch dem Abteilungsleiter schien meine Meinung egal zu sein. Mit eigenartiger Regelmäßigkeit traf ich immer schon auf Menschen, die mir Vorträge hielten, die monologisierten und nicht einmal so taten, als seien sie an mir interessiert. Da hätte ich fast ein wenig böse werden können, aber es war mir durchaus wohl damit, nicht antworten zu müssen, berieselt vom stetigen Strom fremder Leute Worte.
    »Wie von einem plötzlich auftauchenden Hurrikan wurden die meisten Leute, mit denen ich verkehrte, in komische Rehabilitationseinrichtungen weggefegt«, fuhr der Abteilungsleiter wie zur Bestätigung meiner Gedanken fort. »Sie kämpfen dort gegen Dinge, die sie Krebs nennen oder Depression oder Anorexie oder Tablettensucht und die nichts anderes sind als die Erkenntnis, dass sich ihre Träume nichterfüllt haben. Ich wäre meinem Verfall auch gerne mit einem freundlicheren Hallo begegnet, als es mir in jenen ersten Jahren, da ich ihn realisierte, möglich war. Ich musste zugeben, dass es tatsächlich schwieriger ist, sein Leben angemessen verstreichen zu lassen, als ich angenommen hatte. Ohne es zugeben zu wollen, hatte ich immer auf ein Später gehofft.«
    Der gelbe Herr nickte zur Unterstützung seiner Worte, und ich war ein wenig verstört über unsere offensichtlichen Gemeinsamkeiten, hatte ich doch gemeint, Lichtjahre von ihm entfernt zu sein.
    Der Abteilungsleiter nahm einen letzten Anlauf.
    »Ich habe nicht in großem Stil versagt, ich habe nur begriffen, dass wir alle scheitern, irgendwann, und sei es an dem Versuch, das zu wahren, was wir unter Würde verstehen. Was nichts anderes bedeutet, als dass man, wenn der Körper in die Grauzone von jung und alt gerät, am besten unsichtbar bleibt. Würde«, der Abteilungsleiter lachte kurz auf, »mit Würde ist so etwas wie Peter O’Toole gemeint, in einem See angelnd, mit einem Kaschmirmorgenmantel am Leib. Und dabei enden doch alle betrunken in Kegelgruppen oder inkontinent mit vertrotteltem Blick. Wehe dem, der beim Verfall nicht mit einer Forschungsaufgabe und einem geliebten Menschen in einer gut isolierten Wohnung sitzt. Wir sind dazu gebaut, mit vierzig zu sterben, nachdem wir Kinder bekommen haben, doch da ist erst die Hälfte der Zeit abgelaufen, und die Konzepte für den anderen Teil sind noch nicht ausgereift. Außer jung zu sein, hat der Mensch noch keine glamourösen Ideen entwickelt, mit denen er sich anfreunden könnte. Der Körper, kein Meisterwerk eleganten Designs, verliert seine eh schon unzureichende Form, und der Geist stagniert.«
    Der Abteilungsleiter fiel unter den Tisch, denn so viel hatte er vermutlich in den letzten Jahren nicht am Stück geredet. Ich stützte den Betrunkenen und brachte ihn in seine Wohnung, deren Adresse ihm nicht entfallen war. Ich legte ihn ins Bett und schaute mich kurz um: Die bedrückend kleine Wohnung war mit Bambi-Postern dekoriert. Das Reh in allen Posen.
    Das war dann auch für mich ein wenig zu viel. Ich ging und schloss leise die Tür.
    Ich befand mich in einem Leben, von dem ich wusste, dass es nicht wirklich schrecklich war, allein der Gedanke, es eventuell noch vierzig Jahre auf die gleiche Art fortzuführen, machte mich ein wenig schläfrig.

Heute.
Mittag.
    Äußerst entschlossen geht ein Regen auf die Insel nieder.
    Ein Picknick im Schnee mit Clownsmaske am Ufer des Sees, in dem die Toteninsel schwimmt.
    Früher hätte mir der Niederschlag in seiner Aufdringlichkeit Freude bereitet, da ist keine Luft zwischen den senkrecht stehenden Wassersäulen, er produziert keine erkennbaren Tropfen in seinem ernsthaften Anliegen, alles, was sich bewegt, wegzuspülen. Gott ist böse.
    Ich stehe unter einem völlig fremdartigen Baum, sehr nah bei einem Haus, dessen geöffnete Verandatür mich an einer interessanten Familiendarstellung teilhaben lässt.
    Eine alte Frau schaut fern, auf dem Herd ein Topf, in dem ein junger Mann rührt, und dann kommen die Kinder aus der Schule, es sind Jungen, die ihre Ranzen in eine Ecke werfen und die Großmutter umarmen, bevor sie ihr den Kopf mit einem Axthieb abtrennen. Ich vermute, dass im Haus Dreharbeiten zu einer Vorabendserie stattfinden. Die Familie zieht alle Register, um mir klarzumachen, wie glücklich sie ist und wie wenig ich es bin.
    Natürlich könnte ich in die Küche gehen und mich an den Tisch zur Oma setzen. Mit etwas Glück fiele meine Anwesenheit keinem auf, sie würden sich weiter
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