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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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Details zu einem unfassbar langweiligen Auftrag geben musste. Die Wichtigkeit des Moments ließ ihn beben. Die Wangen, die Hände, die Nase – der Abteilungsleiter war ungnädig gealtert, mit vögelchengleichem Haar, sicher ohne eine Frau, denn er roch säuerlich, und vermutlich sehnte ersich nach jungen Mädchen, die er, außer er vergewaltigte oder kaufte sie sich, nie mehr berühren würde. Ich war sein Moment. Es war vermutlich das einzige Mal am Tag, dass ihm jemand zuhören musste – er wusste es und holte weit aus.
    Ich schrieb seit zwanzig Jahren Gebrauchsanweisungen, und die Informationen, die der Mann mir gab, waren vollkommen unsinnig. Ich hätte ihm sagen können: »Hören Sie, diese albernen Maschinen funktionieren alle gleich, ein paar Knöpfe, neuerdings auch Dinge zum Programmieren, es wird sowieso keiner verstehen, was ich schreibe, die Funktion von Gebrauchsanweisungen besteht einzig darin, dem Verbraucher Respekt vor der Maschine und das Bewusstsein der Unterlegenheit zu verschaffen. Dann hat er das Gefühl, sein Geld gut angelegt zu haben, der Mensch, der in Maschinen investiert, die inzwischen Gadgets heißen und in Schränken daheim stehen.« Doch ich war nicht ausreichend boshaft, um dem gelben Herrn den Höhepunkt seines Tages zu zerstören, auch er war nur ein Verlorener, der nach seiner Arbeit heimging, um die er zittern würde, bei Nacht, er würde sich entkleiden, seine dürren Beine in eine Pyjamahose stecken und doch frieren, und er hätte solche Angst und wüsste nicht einmal, wovor, weil er ein Mann war und noch weniger zum Denken in der Lage als seine weiblichen Artgenossen. Bald wäre er tot, würde verbrannt, seine Gebeine zermahlen. Am selben Tag stürben einhundertfünfzigtausend andere, die keinerlei Spuren hinterlassen würden.
    Dieser unterhaltsame Strom von Gedanken füllte mein Gehirn bis in jeden Winkel, während ich den Mann mit glasigen Augen musterte.
    Als mir klargeworden war, in welch unbedeutende Richtungsich mein Leben entwickelt hatte, war es schon fast zu spät gewesen. Natürlich gibt es Greise, die den Mount Everest besteigen; seit dort überall Müllhaufen herumliegen, ist das einfacher geworden. Oder sie lassen sich mit Ende achtzig immatrikulieren. Vermutlich ist das die Sorte Mensch, die immer über ein wenig mehr Energie verfügt als andere. Wenn einem diese überhitzte Umlauftemperatur nicht von Geburt an oder als Folge einer Hirnfunktionsstörung eigen ist, kann man sie nur mit Drogen erzeugen.
    Ich war träge, und diese Eigenschaft verstärkte sich, wie alle übrigen, mit den Jahren. Meine Faulheit zum Beispiel musste man geradezu Koma nennen; und mein Leben noch einmal völlig zu ändern, um zu überprüfen, ob ich in einer anderen Form glücklicher wäre, würde ich vermutlich nicht mehr schaffen.
    Der kleine gelbe Mann redete immer noch und tat mir so leid, dass ich unvermittelt zu weinen begann.
    »Lassen Sie uns zusammen einen Tee trinken gehen«, hörte ich mich sagen, und der Mann schwieg verstört. Ich hatte ihn aus seinem Rhythmus gebracht. Normalerweise lag mir nichts ferner, als andere des kleinen Schauspiels zu berauben, das sie tagtäglich für sich aufführen, doch es war über mich gekommen. Ein seltsamer Anfall von Nächstenliebe, den ich fast schon wieder bereute, als ich sah, wie der Mann sich verwirrt erhob und seinen Mantel vom Haken nahm. Es wunderte mich nicht einmal, dass es sich um einen Superman-Umhang handelte. Wir gingen in das nächste Restaurant am Weg, eines mit gelben Gardinen, wenig Licht und zwei Alkoholikern am Tresen. Ich trank Tee, der gelbe Herr Wein, und er, der eben noch Abteilungsleiter einer Firma für denVertrieb importierter Mikrowellengeräte gewesen war, verfiel nun in eine beeindruckende Geschwindigkeit.
    »Ich hatte geglaubt, allein das Wissen darum, dass mir keine Wunder zustehen, würde die Enttäuschung über ihr Ausbleiben weniger schmerzhaft sein lassen. Aber so, wie ich mit allen die Nachteile des Älterwerdens teile, macht es keinen Unterschied für das Ausmaß meines Selbstmitleids, zu sehen, dass auch fast alle anderen Lebensentwürfe gescheitert sind, die ich sonst beobachtet habe.« Trotz zügigen Alkoholkonsums redete der gelbe Herr sehr klar, fast als läse er vom Blatt, vielleicht hatte er die Sätze lange einstudiert, in der Hoffnung auf eine Situation wie diese.
    »Es ist, als gäbe es ein Verfallsdatum für das Leben. Wie über Nacht wurde die Auflösung des Körpers sichtbar, und zusammen
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