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Der Mann schlaeft

Der Mann schlaeft

Titel: Der Mann schlaeft
Autoren: Sibylle Berg
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war. Alles andere wäre ein Übermaß an Aufmerksamkeit, das ich mir durch nichts verdient hatte. Ich ertrug fast nur noch die Anwesenheit von sehr alten Leuten oder pubertierenden Kindern. Vielleicht war es der Mangel jeder Eitelkeit, resultierend aus dem Übergang, in dem sie sich befanden, der mich bei beiden angenehm berührte. Ich habe nie verstanden, warum es vielen so unerträglich ist, sich lächerlich zu machen.
    An jenem Nachmittag, in einer Wohnung sitzend, die wirkte wie von einem Menschen, der seit Jahren in einer Anstalt lebte, an diesem unvermeidlichen Küchentisch mit Rotweinglasringen, war ich im Begriff, wieder einen Freund zu verlieren, mit dem nie eine wirkliche Beziehung stattgefunden hatte.
    »Ich habe immer wieder das Gefühl, dass du mich nicht ernst nimmst. Je länger ich dich kenne, umso fremder wirst du mir«, sagte der Mann, der mir vorher etwas zu ausführlich von einer Komposition erzählt hatte, an der er gerade arbeitete.Ein Melodram, in dem erwachsene Menschen mit ihren inneren Kindern konfrontiert wurden.
    Er sagte wirklich »innere Kinder«, und das war wohl der Moment, da mein Blick wirr zu werden begann. Ich überschlug sehr schnell meine Möglichkeiten. Ich konnte ihm die Wahrheit sagen, was bedeuten würde, dass es künftig einen mehr gäbe, der die Straßenseite wechselte, träfe er auf mich. Unterdes schien mir, dass die Trottoirs, auf denen ich mich bewegte, auffallend leer wurden.
    Also sagte ich: »Nein, mir ist nur ein wenig übel heute, es wird wohl mit meinen Wechseljahren zu tun haben.« Wenn man Männer schnell und definitiv zum Schweigen bringen will, muss man ihnen nur von Frauenleiden erzählen. Selbst bei hartnäckigen Zweiflern genügen die Worte »Unterleib« und »Blut«, um jeder weiteren Frage zu entgehen. Es funktionierte auch in diesem Fall, und der Bekannte schwieg unangenehm berührt.
    Wir kannten uns seit zwanzig Jahren. Irgendwann in der Halbzeit hatte er sich eingeredet, dass er in mich verliebt sei. Plötzlich, wie über Nacht, war es ihm gekommen, nach ungefähr dreihundert ereignislosen gemeinsamen Mahlzeiten. Ich war wütend ob seiner Idee, der ich misstraute. Diese abrupte Veränderung alter Gefühle schien mir allein der Versuch, den Marktwert zu erforschen, sich der Verfügbarkeit des anderen zu versichern, um sich überlegen fühlen zu können. Merkwürdige Spiele.
    Wie jede anständige Frau machten mich ungefragt offerierte Gefühle verlegen, und ich empfand Schuld, da ich sie nicht zu erwidern vermochte.
    Damals hatte ich versucht, mich von den Qualitäten desBekannten zu überzeugen, fühlte mich in seiner Anwesenheit unter Druck gesetzt, und in dunklen Träumen war er mir erschienen, zwei Jahre, so lange terrorisierte er mich mit seinen Gefühlen, und am Ende verliebte er sich in eine junge Frau aus Südamerika und tat mir gegenüber so, als wäre nichts geschehen.
    Der Bekannte, den ich seit Minuten glasig ansah, unterbrach meine Gedanken: »Ich sagte, Elvira hat gelernt, ihre Vergangenheit anzunehmen. Ist das nicht großartig!«
    »Vollkommen großartig«, antwortete ich und dachte an die unerträgliche südamerikanische Freundin des Mannes, die mit Mitte dreißig immer noch nicht die Höflichkeit besaß, fremde Menschen mit ihren Problemen zu verschonen. Wenn einer nicht das Glück gehabt hatte, als Kind eine ordentliche Erziehung zu genießen, ist es hilfreich, wenn er wenigstens über die Intelligenz verfügt, später die Verantwortung für sich zu übernehmen und keinem zur Last zu fallen mit Unbeherrschtheiten. Der Freund mir gegenüber erzählte weiter von seinem Privatleben, und ich wurde zunehmend ratlos: »Wir haben jetzt eine Ebene der Vertrautheit gefunden. Also wir streiten viel, Elvira hat stärker den Wunsch nach Auseinandersetzung als ich. Aber ich merke auch, nach fünf Jahren, dass diese Diskurse sehr reinigend sind.« Ich verstand nicht, wovon er redete. Ich mochte mich nicht erinnern, dass seine Sätze jemals so abenteuerlich geklungen hatten wie jetzt, geformt vom Einfluss seiner Freundin, der er aus berechtigter Angst zuhörte, ohne sie alleine altern zu müssen. Ich verstand die Worte nicht, nicht den Sinn dahinter, der vermutlich meinte, dass sich da zwei Menschen das Leben zur Hölle machten. Aber sich in Lebensgeschichten anderer einzumischenlag mir fern. Die beiden waren verbunden durch ein festes goldfarbenes Band, das ihre Neurosen miteinander geknüpft hatten. Allein verstand ich nicht, warum so viele Menschen
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